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Die Frau ohne Gesicht

Die Frau ohne Gesicht

Titel: Die Frau ohne Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pekka Hiltunen
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du fragen kannst.«
    »Und wenn sie wissen wollen, wieso meine Schwester sich nicht mit mir in Verbindung gesetzt hat?«
    »Du sagst, sie ist krank. Deshalb bist du so besorgt: Vielleicht ist deine Schwester zu krank, um sich bei dir zu melden? Aber arbeite die Geschichte so gründlich aus, dass du selbst daran glaubst. Die Schwester braucht einen Namen und ein Alter, Angewohnheiten und Schwächen, und du musst natürlich wissen, wie sie aussieht. Sie muss ein Leben haben.«
    Allmählich dämmerte Lia, wie anspruchsvoll ihre Aufgabe war.
    Bei alldem war es ein Glücksfall, dass ihr Urlaub bald anfing. Sie hatte vereinbart, ihren dreiwöchigen Jahresurlaub Ende September anzutreten, sich aber noch keine Gedanken darüber gemacht, wo und wie sie ihn verbringen wollte. So konnte sie sich drei Wochen lang auf die Suche konzentrieren.
    »Nimm nicht den ganzen Urlaub auf einmal«, riet ihr Mari.
    »Warum nicht? Er kommt doch jetzt gerade richtig.«
    »Es wäre besser, wenn du dir nur eine Woche freinimmst«, meinte Mari, »den Rest des Urlaubs solltest du dir aufsparen. Wenn sich die Sache entwickelt, wirst du später unbedingt flexible freie Zeit brauchen.«
    Es widerstrebte Lia, die vereinbarte Urlaubsregelung umzustoßen, doch nach kurzem Nachdenken erkannte sie die Vorteile.
    Vielleicht ist es sogar gut, dass ich bei Level auch einmal Forderungen stelle und nicht nur tue, was man mir sagt.
    »Möchtest du Paddy oder einen Leibwächter in die Clubs mitnehmen?«, fragte Mari. »Ich kenne Leute aus der Branche.«
    »Nein, danke. Ich habe nicht vor, mich in Situationen zu begeben, in denen ich einen Leibwächter brauche.«
    Als sie sehr viel später in ihrem Bett lag, fand Lia keinen Schlaf. Sie hatte eine gute Stunde lang gejoggt, doch diesmal hatte das Laufen sie nicht entspannt.
    Sie beschloss, noch einen Spaziergang zu machen, und ging in den Park an der Kirche. Es gab dort zwar Überwachungskameras, doch Lia war schon öfter abends hier gewesen und hatte noch nie Alarm ausgelöst.
    Dies war ihre Straße, die Kidderpore Avenue. Sie war schmal, hohe Bäume säumten sie, und leicht geschwungen wand sie sich über den Hügel von Hampstead. Lia liebte die großen Wohnhäuser und schönen alten Gebäude, in denen sich Lehranstalten oder Firmen befanden. Die Anwohner waren seit langem hier ansässig, oft waren es Familien, dazu Studenten und Leute aus dem Kulturleben. Eine kleine, friedliche Insel im geschäftigen London.
    Lia betrachtete die vertrauten Statuen im Park. Sankt Lukas und der Pfund-Hund, die sie auch von ihrem Fenster aus sehen konnte, dahinter der Komponist Edward Elgar und seine Frau, die Schriftstellerin Caroline Alice Elgar. Sie setzte sich auf den Sockel von Florence Nightingale, der gerade breit genug war, um es noch bequem zu haben.
    Was tue ich hier eigentlich? Ich erfinde Märchen über eine angebliche Schwester in Lettland. Ich frage die Polizei nach Einzelheiten eines Verbrechens, das mich im Grunde gar nichts angeht. Und als ob das nicht reichte, lese ich nächtelang Zeitungsartikel, um einen honigsüß lächelnden Politiker als Bösewicht zu entlarven.
    Ich bin nicht mehr die Alte.
    Das Studio war ihr vertraut geworden. Sie empfand es nicht mehr als seltsam, sie kannte jedes Detail – die Bilder an Maris Wänden oder die Art, wie das Tageslicht durch die Räume wanderte.
    Sie wusste, wie sorgfältig Berg in seiner Bude arbeitete und wie penibel er anschließend aufräumte. Einmal hatte er aus den Spänen, die beim Hobeln abgefallen waren, kunstvolle kleine Gebilde geschaffen. Wenn sie die Arbeitsgeräusche aus der Bude hörte, sah sie den lächelnden Berg in seinem Overall vor sich.
    Mein zweites, merkwürdiges Zuhause.
    Lia stand auf und berührte vorsichtig die kalte Oberfläche der Skulptur. Es gefiel ihr, dass sich der Marmor hart und weich zugleich anfühlte.

17.
    Mari sitzt in ihrem Zimmer im Studio am Computer und liest ihre Nachrichten. Dann sieht sie sich noch einmal Maggies Notizen über die baltischen Läden und die Nachtclubs an, in die Lia gehen wird.
    Sie denkt an die Osteuropäer in London, an ihre Bräuche und ihren Sinn für Humor, an Arbeitslosigkeit und üble Jobs und an die unausgesprochenen Träume, die diese Menschen nach London geführt haben.
    Unter den Russen, Polen und Balten in den Clubs wird Lia, die Finnin, kaum auffallen.
    Und Lia weiß sich zu behaupten.
    Es freut Mari, was die Besuche im Studio bei Lia ausgelöst haben und wie sich ihre Freundschaft entwickelt. Lia

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