Die Frau ohne Gesicht
reichte.
»Ich weiß, dass er nur zahlt, weil er Angst hat. Wenn ich jetzt alles erzähle, stellt er die Zahlungen garantiert ein. Aber ich bin achtunddreißig. Wenn es in meinem Leben noch etwas Neues geben soll, muss es bald kommen.«
Lia war überrascht. Sarah sah zehn Jahre älter aus.
Es sei seltsam, dass keine Gerüchte über Frieds Brutalität aufgekommen waren, meinte sie.
»Er ist sehr geschickt«, sagte Sarah. »Anfangs fand ich seine Selbstbezogenheit charmant. Klingt albern, oder? Aber mir war bis dahin noch keiner begegnet, der so glänzte.«
Fried sei fähig, eine Stunde lang zu reden, ohne von seinem Gesprächspartner mehr zu erwarten als gelegentliches Kopfnicken. Jeder habe ihm auf Anhieb seine Stimme gegeben. Tatsächlich habe er alles gehabt, was ein guter Politiker brauchte: Er habe andere begeistern können, eine unerschöpfliche Energie gehabt und das politische Spiel perfekt beherrscht.
»Aber er hat kein Herz – er kann Wärme vortäuschen, aber in Wahrheit hat er keine.«
Alle Politiker seien in gewisser Weise Narzissten, fügte Sarah hinzu, das gehöre zum Beruf. Sie müssten an sich glauben, an ihre Allmacht, ihre Fähigkeit, andere zu repräsentieren.
Aber Fried sei auch in diesem Umfeld ein Sonderfall. Sarah erklärte, in vielen Dingen vertrete er das Programm der Fair Rule überhaupt nicht. Er habe sich der Partei angeschlossen, weil er gemerkt habe, dass sie leicht zu manipulierende Wähler ansprach.
»Er verachtet die meisten von diesen Leuten. Wenn er von einer Parteiversammlung nach Hause kam, rief er oft: ›Ich habe sie alle gefickt!‹«
Das habe bedeutet, dass er irgendeinen Beschluss durchgesetzt hatte.
»Weißt du, was sein höchstes Ziel ist?«, fragte Sarah.
Lia schüttelte den Kopf.
»Es ist mir anfangs sehr utopisch vorgekommen«, sagte Sarah, »aber nach den derzeitigen Umfragewerten nicht mehr.«
Fried genüge es nicht, die Fair Rule ins britische Parlament zu bringen. Er sehe sich als Führer einer viel größeren Schar.
»Er polemisiert gegen die EU , will aber früher oder später selbst EU -Abgeordneter werden.«
Fried habe das Ziel, die heutigen zerstreuten rechtsextremen Bewegungen Europas zu vereinen. Einen Zusammenschluss zu schaffen, der sie mächtiger und größer mache.
Lia lief es kalt den Rücken herunter. Sie dachte an den Fanatismus, den sie in der Eishalle in Streatham gesehen hatte.
Sarah warf einen Blick auf die Uhr. Es war bereits halb zwei.
»Ich muss das Mittagessen für den Jungen kochen. Essen ist fast das Einzige, wofür er sein Spiel unterbricht. Aber du kannst gern bleiben, wenn du noch mehr hören willst.«
Sarah legte Chicken Nuggets in eine Bratpfanne und kochte frischen Tee. Sie hing ihren Gedanken nach. In der Küche wurde es still.
Lia dachte an Sarahs Leben und an ihr eigenes.
Als Sarah die Teekanne auf den Tisch stellte und sich setzte, fasste Lia einen Entschluss. Sie fühlte sich dazu verpflichtet, nach allem, was Sarah ihr gerade erzählt hatte. Es wurde Zeit, dass sie ihrer Furcht entgegentrat.
»Von Gewalt in der Familie weiß ich nichts«, begann sie. »Aber ich kenne das Gefühl, wenn jemand, den man zu lieben glaubte, sich in einen Menschen verwandelt, den man hasst.«
Sarah hörte schweigend zu. Es war das erste Mal, dass Lia in England über ihr Erlebnis sprach. Außer ihren Eltern wusste niemand davon, weder ihre alten Freunde in Finnland noch ihre Kollegen bei Level , nicht einmal Mari – sofern man ihr irgendetwas verheimlichen konnte.
Der Mann hieß Erkka. Lia war damals erst einundzwanzig gewesen, Erkka einige Jahre älter. Er hatte Lia irgendwie neugierig gemacht, weil er so faszinierend rastlos war.
»Er war völlig anders als alle anderen.«
Erkkas Bewunderung hatte Lia geschmeichelt. Sie wurde angebetet. Sie bekam Geschenke und Briefe. Diese Briefe waren lang und leidenschaftlich. Erkka versprach, ein Haus für sie zu bauen, den Schuppen mit Holzscheiten zu füllen, eigenhändig die Bäume zu fällen, aus denen er das Haus und den Schuppen bauen und das Brennholz hacken würde, ein Bett für sie beide zu zimmern.
Der brennende Eifer verwandelte sich in bedrückenden, manischen Wahn.
Als Lia ihren Unwillen erkennen ließ, setzte Erkka alle erdenklichen Mittel ein. Er besänftigte Lia mit neuen Geschenken und Gefälligkeiten. Als er dazu überging, auch ihren Bekannten Briefe zu schreiben, schrak sie vor ihm zurück.
»Es nahm Ausmaße an, die man sich nicht vorstellen kann. Es wurde zum
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