Die Frau ohne Gesicht
Perlmuttkamm vor das Gesicht. Die Frau blieb abrupt stehen und starrte ihn an.
»Wem gehört der?«, fragte sie mit deutlichem Akzent.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Lia und holte den Zeitungsbericht aus der Tasche. »Ich denke, ihr.«
Die Frau warf einen Blick auf den Artikel, der ihr jedoch nichts zu sagen schien.
»Wo ist sie?«, fragte sie und zeigte auf den Kamm.
»Tot.«
Die Frau erstarrte. In ihren Augen las Lia, dass ihr eine schmerzliche Erkenntnis kam. Sie stand lange unbeweglich da, beide schwiegen. Schließlich begann die Frau mit unsicheren Schritten zum Haus zurückzugehen.
»Wie heißt du?«, fragte Lia.
»Elza«, antwortete die Frau.
»Kommst du aus Lettland?«
»Ja«, erwiderte die Frau und sah Lia verwundert an. »Ich muss jetzt gehen.«
»Nimm das mit«, sagte Lia und reichte ihr den Artikel.
Elza schnappte das Blatt, steckte es in die Manteltasche und verschwand im Haus.
Lia drehte sich um und ging rasch davon. Es fiel ihr schwer, ihre Aufregung zu zügeln. Am liebsten wäre sie gerannt.
Diese Elza hatte den Kamm erkannt! Sie musste auch die Ermordete kennen. Alles andere wäre ein zu großer Zufall.
Lia wollte gerade das Handy aus der Tasche holen, doch sie überlegte es sich anders.
Ich brauche es Mari noch nicht zu sagen. Das tue ich später, wenn ich mehr herausgefunden habe.
Sie ging zur nächsten U-Bahn-Station, und als sie auf den Zug nach Hampstead wartete, jubelte sie innerlich.
Am nächsten Abend kam sie früher in die Vassall Street. Diesmal war sie besonders vorsichtig. Sie beobachtete das Haus aus größerer Entfernung, von einer in dunklen Schatten liegenden Stelle an der Straßenecke aus. Das Handy hielt sie griffbereit, Maris Nummer war eingegeben.
Wenig später beobachtete Lia, wie Kazis Vanags ankam, parkte und im Haus verschwand. Etwa eine halbe Stunde später kam er wieder heraus und fuhr davon.
Als Elza kurz vor acht Uhr zur Tür heraustrat, spürte Lia, dass sich ihr Puls beschleunigte. Die junge Lettin machte sich wieder auf den Weg zu dem kleinen Laden.
Lia folgte ihr nicht sofort, sondern vergewisserte sich, dass Elza nicht beobachtet wurde. Erst dann lief sie zu dem Laden.
Elza war bei ihrem Anblick nicht überrascht, ließ sich aber auch nicht anmerken, dass sie Lia kannte. In ihrem Einkaufskorb lagen eine Illustrierte, Zigaretten und eine Packung Tampons. Als sie sich zwischen die Ladenregale zurückzog, folgte Lia ihr und drängte sich dicht an sie.
»Hast du den Artikel gelesen?«, flüsterte sie.
Elza nickte und fragte leise: »Wer bist du?«
Lia nannte ihren Namen und fügte hinzu, sie käme aus Finnland.
Elza überlegte kurz.
»Hast du Daiga gekannt?«
Lia zuckte zusammen. So hieß die Tote also, Daiga.
»Nein.«
»Warum fragst du dann nach ihr? Für wen arbeitest du?«
»Für niemanden. Daiga wurde brutal ermordet. Ich will, dass der Mörder den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringt.«
Elza runzelte die Stirn und wirkte unsicher.
»Jetzt ist keine Zeit zu reden«, sagte sie. »Ich darf nur zehn Minuten ausbleiben, sonst kriege ich Probleme.«
Der Montag sei der einzige Tag, an dem sie und ihre Freundinnen eine Zeitlang unbewacht seien, erzählte Elza. Dann gingen sie in das Einkaufszentrum in Oakley. Sie würden von einem Mann begleitet, der jedoch meist keine Lust hatte, hinter ihnen herzulaufen.
»Er geht lieber in einen Pub und schickt uns einen Kartenjungen mit.«
Lia sah Elza fragend an: »Einen Kartenjungen?«
»Das sind Jungs, die unsere Karten in den Bars und Telefonzellen auslegen.«
Natürlich! Lia hatte schon oft in der Stadt Karten und Aufkleber gesehen, auf denen Frauen angepriesen wurden. Doch ihr war nicht klar gewesen, dass sich eine kleine Berufsgruppe auf die Verteilung des Materials spezialisiert hatte. Langsam bekam sie Einblick in den Alltag osteuropäischer Prostituierter in London.
»Komm am Montag nach Oakley«, sagte Elza. »Da ist ein Café, in dem wir reden können.«
Sie verabredeten sich für zwei Uhr. Lia beschloss, nicht an ihre Arbeit zu denken. Sie würde sich eben freinehmen müssen.
Bevor Lia den Laden verließ, fiel ihr noch etwas ein.
»Was war ihr voller Name?«
»Daiga V ī tola«, antwortete Elza leise.
Lia lächelte sie an und ging.
Daiga V ī tola. Ich habe dich gefunden.
Als Lia auf die Straße trat, blickte sie sich nach allen Seiten um. Niemand war zu sehen.
Sie machte sich auf den Weg zur U-Bahn-Station. Unter ihre Siegesfreude mischten sich immer neue Fragen.
Es
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