Die Frau ohne Gesicht
verschiedensten Muster bildeten, lösten sie sich nicht aus dem Griff der von beiden Seiten wehenden Luft, sondern blieben in der Schwebe.
Lia betrachtete das Kunstwerk lange.
»Es ist toll«, sagte sie schließlich.
»Nicht wahr? Die Kreise bilden zwei große Nullen oder auch den Buchstaben O«, erklärte Mari leise, wie um den Zauber des Augenblicks nicht zu zerstören. »Das Werk heißt ›Double O‹ und stammt von dem lettischen Künstler Zilvinas Kempinas.«
»Das ist ein merkwürdiger Zufall«, entfuhr es Lia.
»Das Baltikum ist in London gut vertreten«, entgegnete Mari. »Wie fast alle anderen Länder und Winkel der Erde auch. Wenn man zu suchen weiß, findet man in London Dinge aus der ganzen Welt.«
»Kommst du oft her und siehst es dir an?«
»Immer, wenn mir danach ist. Es spendet mir Trost.«
Lia hatte bildende Kunst von Kind an geliebt und sie im Rahmen ihrer Grafikerausbildung auch studiert. Zeitgenössische Installationen wie diese repräsentierten für sie einen ganz bestimmten Gemütszustand: klar und analytisch, zugleich aber offen für große Gefühle.
So ist Mari auch. Von außen betrachtet undurchdringlich, intelligent und absolut zielbewusst. In ihrem Innern wogen aber große Gefühle und Prinzipien.
Das Museum war bis neun Uhr abends geöffnet, und Mari kam meistens in den letzten Stunden, wenn wenig Besucher da waren. Sie saß dort, wenn eine aufreibende Aktion anstand und sie klar denken musste oder wenn sie bedrückt war.
»Es kommt mir vor, als wäre die ganze Welt in diesem Werk. Und ich kann einfach hier sitzen. Ich brauche sie nicht zu kontrollieren. Sie bewegt sich in ihren eigenen Bahnen, man kann sie nicht beherrschen.«
Lia glaubte zu verstehen.
Mari formte die Welt nach ihren Vorstellungen um, Stück für Stück. Das musste belastend sein. Wenn man die Möglichkeit hatte, Dinge zu ändern, stand man vor der Entscheidung, welche man auswählte.
»In alles kann und soll man sich nicht einmischen«, sagte Lia. »Die Welt bewegt sich ganz von allein.«
»Ja«, erwiderte Mari. »So sehe ich es auch.«
Sie blickten wieder auf die schwebenden Kreise und vergaßen die Zeit.
Schließlich stand Mari auf und sagte: »Jetzt möchte ich in einen Pub. Ist dir Queen’s Head & Artichoke recht?«
»Und wie.«
31.
Die Story von Arthur Frieds Unternehmensbetrug hätte jede Zeitung mit Freuden auf die erste Seite gesetzt. Lia konnte sich aussuchen, wer sie bekommen sollte.
Sie entschied sich für den Reporter Thomas O’Rourke, den sie bei beruflichen Veranstaltungen kennengelernt hatte. Er arbeitete im Politikressort der Zeitung The Star , die zwar auf der ersten Seite häufiger Interviews mit Reality- TV -Starlets brachte als richtige Nachrichten, dank ihrer langen Geschichte jedoch noch den Ruf eines seriösen Blattes hatte.
O’Rourke war über Lias Anruf erstaunt, stimmte aber einem gemeinsamen Lunch zu, als Lia andeutete, sie habe vielleicht einen Tipp für ihn.
Im Café Blend wählte Lia einen Ecktisch. Nachdem der Kellner das Essen serviert hatte, kam sie zur Sache.
»Ich habe einen ungewöhnlichen Vorschlag. Du bekommst Informationen über eine große politische Nachricht, wenn du sie zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt veröffentlichst und absolut keine Auskunft über deine Quelle gibst.«
O’Rourke verlor augenblicklich das Interesse an dem dampfenden Nudelgericht, das vor ihm stand.
»Darf ich fragen, warum jemand von Level anderen politische Sensationsstorys anbietet?«
Es sei ein wenig kompliziert, erklärte Lia. Die Art, wie sie an die Informationen gekommen sei, mache es ihr unmöglich, sie in ihrer eigenen Redaktion zu verwenden.
»Und ich möchte nicht, dass die Geschichte mit mir oder mit Level in Verbindung gebracht wird.«
O’Rourke fragte nicht nach – es war nichts Neues für ihn, dass Nachrichten aufgrund anonymer Tipps entstanden und auf Wegen, die man nicht publik machen konnte.
»Es geht um Arthur Fried«, sagte Lia. »Ich habe Beweise dafür, dass er das Finanzamt um mehrere hunderttausend Pfund betrogen hat.«
O’Rourkes Augen leuchteten auf. Sie hörten nicht mehr auf zu funkeln, während Lia ihm berichtete, was sie wusste.
»Eine irre Story«, sagte er, als sie ihre Erzählung beendet hatte. »Ein Riesending.«
Er erklärte, mitunter habe er sich gewundert, wie Frieds rasch wachsende Popularität zu erklären sei. Wenn diese Nachricht an die Öffentlichkeit käme, würde Frieds Kampagne ins Schlingern geraten.
»Wann kann ich das
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