Die Frau ohne Gesicht
ich lernen, die Risiken genauer zu analysieren und meinem Instinkt zu folgen.
»Niemand sonst hat so etwas getan«, sagte Paddy. »Warum du und Mari?«
»Weil wir Finninnen sind?«, schlug Lia vor.
Mari verzog das Gesicht: Für Scherze war jetzt nicht der richtige Augenblick.
»Es fällt euch beiden schwer, Autoritäten anzuerkennen«, entgegnete Paddy kühl. »In Maris Fall mag das begründet sein. Sie hat das Zeug zur Anführerin. Sie ist fähig, Risiken abzuwägen. Du nicht.«
Lia schluckte, sie begriff, dass ihre Zukunft im Studio auf dem Spiel stand.
»Es tut mir leid«, sagte sie.
Paddy ließ sich nicht so schnell beschwichtigen. Er wurde erst weich, als er an Lias Stimme hörte, dass sie wirklich einen neuen Versuch machen wollte, mit einer neuen Einstellung.
Als er schließlich glaubte, dass sie es ernst meinte, ging er über die Auseinandersetzung hinweg.
»Wir sehen uns am Montag. Wir telefonieren miteinander, bevor wir nach Oakley fahren, und ich entscheide, wie wir vorgehen.«
Es war bereits nach zehn, doch weder Mari noch Lia zog es nach Hause. Während Mari sich in ihre Unterlagen vertiefte, ging Lia in den Computerraum und versuchte, Daiga V ī tola im Internet ausfindig zu machen.
Es gab viele Frauen mit dem Vornamen Daiga und auch einige Letten namens V ī tola. Aber sie entdeckte keine einzige Daiga V ī tola.
Sie ging in die Küche, holte eine Flasche schweren Shiraz und zwei Gläser und kehrte in Maris Zimmer zurück. Mari setzte sich zu ihr aufs Sofa. Der Wein erwärmte Lias ganzen Körper.
»Mein Leben hat sich verändert«, sagte sie.
Sie redete mit osteuropäischen Prostituierten und der Exfrau eines gewalttätigen Redneck-Politikers. Morgens überlegte sie nicht mehr, was es bei der Arbeit Neues geben würde, sondern freute sich auf ihren nächsten Besuch im Studio. Als sie zum zweiten Mal mit dem Glatzkopf fertiggeworden war, hatte sie sich stärker gefühlt als je zuvor.
Auch ihre Einstellung zu London hatte sich geändert. Bisher hatte sie nie das Gefühl gehabt, ihre Umgebung zu beherrschen. Die Menschenmassen hatten sie unruhig gemacht. Jetzt kam es ihr vor, als sei die Stadt für sie gemacht. Im Bus und in der U-Bahn war sie nicht einfach ein Passagier wie alle anderen: Sie hatte ein Ziel, eine Aufgabe. Sie wusste etwas, wovon die anderen Fahrgäste nichts ahnten, sie hatte mehr gesehen als sie alle.
»Ich verstehe jetzt, warum du diese Arbeit machst«, sagte Lia. »Sie gibt einem das Gefühl, stark zu sein.«
Mari nickte.
»Nicht immer. Aber ziemlich oft.«
Dann goss sie Wein nach und hob ihr Glas. »Auf Daiga V ī tola.«
»Auf Daiga V ī tola.«
32.
Sarah Hawkins wartete an der Tür ihres Reihenhauses, als Lia im Taxi vorfuhr.
Sie war nicht mehr die müde, erschöpfte Frau, mit der Lia gesprochen hatte. Sie trug ein Kostüm und Schuhe mit hohen Absätzen. Ihr Koffer war gepackt.
Sie sagte, das Kostüm und der Koffer seien seit Jahren nicht mehr zum Einsatz gekommen.
»Ich hatte kein Geld für Reisen. Und ich wollte nicht einmal bei meiner Schwester übernachten, weil ich in fremder Umgebung nicht einschlafen kann. Das hat während meiner Ehe angefangen.«
Sarah hatte den Vorgarten in Ordnung gebracht und die alten Plastikstühle weggeschafft.
»Ich habe ein bisschen aufgeräumt. Für den Fall, dass die Presse hier auftaucht«, erklärte sie.
Dann schloss sie die Haustür ab und folgte Lia zum Taxi.
»Bist du bereit?«, fragte Lia.
»Ja.«
Ihrer Schwester hatte Sarah erzählt, sie fahre für ein paar Wochen zu einem Kurs des Frauenzentrums. Diese hatte sich darüber gefreut, dass Sarah endlich einmal aus dem Haus kam.
Nach zehn Minuten Fahrt stiegen sie aus dem Taxi in den grauen Lieferwagen des Studios um.
»Wir haben einen Drehort ausgesucht, der nicht weit von deinem Hotel entfernt ist«, erklärte Lia.
Rico, der am Steuer saß, plauderte so fröhlich drauflos, dass Sarah sich bald entspannte. Sie saß auf der mittleren Bank, von wo sie kaum nach draußen sehen konnte. So merkte sie nicht, dass Rico immer wieder Umwege machte.
Es war nur noch ein Tag bis zum Beginn der Operation gegen Arthur Fried. Sarah musste gefilmt und dann in Sicherheit gebracht werden.
Der Drehort war eine Industriehalle, die Berg angemietet hatte. Er selbst erwartete sie auf dem Parkplatz vor der Halle. Lia stellte amüsiert fest, dass Berg diesmal auf seinen Overall verzichtet hatte. Allerdings unterschied sich seine Kleidung nicht allzu sehr von seiner üblichen Kluft:
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