Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition)
von vorne –
doch das Gesicht, das zu dem Traumbild in seiner Kartei passte, ließ sich nicht
finden. Als die Beleuchtung im Saal erlosch und nur noch einzelne Lichter die
Tribüne erhellten, fühlte er sich schlecht; wie ein Kind, das man zum Narren
gehalten hatte, wie ein Teenager, der bei seinem ersten Rendezvous versetzt
worden war, wie ein Journalist, den frau gehörig verarscht hatte. Trotz seiner
gedämpften Stimmung fuhr er fort die im Halbdunkel wogenden Köpfe abzutasten.
Der erste Redner war ein Mann mit spärlichen angegrauten
Haaren und einer hohen Stirn. Er war der Leiter der Basis. In einem Dorf
gleicher Größe auf der Erde wäre er Bürgermeister gewesen; doch Ansiedlungen
dieser Größenordnung waren auf der Erde schon seit Jahrzehnten Geschichte.
»Liebe Freunde, verehrte Gäste!«, drang der angenehme
Bariton an Roberts Ohren. »Nichts liegt mir ferner als an einem Freudentag wie
dem heutigen, euch mit meiner Rede zu langweilen und womöglich dazu
beizutragen, dass der Champagner warm oder der Rotwein kalt wird.«
Vereinzelter Applaus drang aus der Menge. Jemand rief Bravo.
»Darum möchte ich gleich das Wort an unseren Ehrengast
übergeben. Sie hat den weiten Weg vom blauen Planeten hierher nicht gescheut,
und wir wollen sie herzlich willkommen heißen, denn, liebe Freunde, sie ist
nicht nur heute unser Gast, sondern sie wird die nächsten fünf Jahre diese
Basis leiten. Herzlich willkommen, …«
Ohrenbetäubend und beängstigend nahe der Schmerzgrenze stufte
Robert die Lautstärke des Applauses ein. In diesem Durcheinander aus Händen vor
und über den Köpfen konnte er nun absolut nichts mehr erkennen. Den Namen hatte
er auch nicht mitbekommen. Das ärgerte ihn. Nur Hände, Klatschen, Johlen, Lärm.
Mit einem Mal vermisste er die Ruhe und Eintönigkeit, die ihm gegen Ende der Schiffspassage
so oft unerträglich schien.
»Danke, danke!«, hauchte diese sanfte Stimme, und Robert
hatte das Gefühl, als hätte sein Herz einen Schlag übersprungen. Dieses ›Danke‹
hatte er heute schon einmal gehört. Einmal? Diese Stimme, die er so gut kannte,
die zu seinem Freund und Begleiter in den vergangenen Monaten geworden war,
wenn sie fragte: »Darf ich Ihnen noch etwas bringen?« Er drehte seinen Kopf,
bis sich der erste Halswirbel mit einem Knacksen beschwerte. Da stand sie auf
der Bühne im Scheinwerferlicht und sah mit ihrem festlichen langen Rock und dem
kurzen taillierten Jäckchen noch bezaubernder aus als heute Morgen. Er sah sie
an, oder sollte es bereits ein Starren gewesen sein? Unfähig, die Augen auch
nur einen Moment von ihr zu lassen, bemerkte er, dass ihn mit einem Mal ein
seltsames Gefühl erfüllte, seinen gesamten Körper überflutete und willenlos
machte. Er war gefesselt von dieser Frau und konnte nichts dagegen unternehmen.
Heiße und kalte Schauer liefen durch seinen Körper, ließen eine Begeisterung
und Faszination in ihm aufflammen, die gleich darauf in Ärger und Zorn
umschlug. Zorn gegen sich selbst. Wie konnte er nur so dämlich gewesen sein,
diese Frau danach zu beurteilen, was sie an Bord des Schiffes tat? Zum Hans
Wurst – nein, zum Journalisten Robert hatte er sich gemacht. Sofort legte er sich
eine gedankliche Notiz mit drei großen Rufzeichen an, Frauen auf
interplanetaren Flügen, die in Bars arbeiteten, in Zukunft von seinen gängigen
Klischees auszunehmen. Was hatte der Alte damals zu ihm gesagt? ›Sie sollten
nicht jetzt schon damit beginnen, Mitreisende – egal ob Personal oder
Passagiere – in Schubladen einteilen.‹ Und warum hatte er nicht auf ihn gehört?
Als sie gute zehn Minuten später mit ihrer Ansprache geendet
hatte, war er derjenige gewesen, dessen Bravorufe am lautesten in der Kuppel widerhallten.
Erst in diesem Augenblick fiel ihm auf, dass sein Mund schon die gesamte Zeit über
weit offen gestanden hatte. Dummerweise hatte er auch absolut nichts von ihrer
Rede mitbekommen, so fixiert war er auf seine visuelle Wahrnehmung gewesen,
dass er sein Gehör komplett ausgeblendet hatte. Bei jedem anderen Teilnehmer im
Publikum, ging es ihm durch den Kopf, wäre das kein großes Malheur gewesen,
doch er war Journalist; seine Aufgabe bestand darin, die Feierlichkeiten und
die Reden zu dokumentieren und darüber zu berichten. Hitze keimte in ihm auf
und er konnte nicht zweifelsfrei feststellen, ob diese ihren Ursprung in dem
schlechten Gewissen, den brennenden Scheinwerfern oder doch schlicht und profan
in ihrem Anblick hatte. Als nächstes war ein
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