Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition)
kalte Nacht über die
Rückseite des Mondes. Verloren muteten die wenigen Sterne an, die hell über
ihren Köpfen standen. Eine einsame Lichterkette zeichnete den selten begangenen
Pfad vom Zentralkomplex zum Kraftwerk nach und versuchte den dunklen
Kraterboden aus dem umgebenden Schwarz herauszulösen. Verschwenderisch
leuchtend strahlten die Scheinwerfer ihr Licht ab, doch die allgegenwärtige
Dunkelheit schien sich davon weder beeindrucken noch erhellen zu lassen. Nicole
begann plötzlich am ganzen Körper zu zittern. Irgendwie hatte sie es sich
einfacher vorgestellt, aus der warmen, beinahe heimeligen Basis in die tote Nacht
hinauszutreten. Sie spürte, wie ihr Herz rascher schlug, sie ballte ihre Hände
zu Fäusten und biss sich mit den Zähnen auf die Unterlippe, um nur kein
verräterisches Stöhnen von sich zu geben. Der Horizont musste irgendwo dort draußen
liegen, wo das unendliche Schwarz des Kraterbodens mit jenem des Alls verschmolz.
Hätte sie mehr Zeit gehabt, um ihre Augen an die Dunkelheit abseits des künstlichen
Lichts zu gewöhnen, wäre sie in der Lage gewesen, diese Linie auszumachen, die keine
zweieinhalb Kilometer von ihr entfernt sein konnte. So blieb ihr nur das
Bewusstsein um deren Existenz und das Wissen, dass der Kraterrand erst gut
sechzig Kilometer hinter dem Horizont zu finden war.
Ihr Blick stieg nach oben. Ein kalter Schauer überlief sie
in ihrem wohltemperierten Anzug. Normalerweise liebte sie es, hier zu sein,
liebte diese unwirkliche Kulisse, liebte diese fühlbare Abgeschiedenheit, diese
Leere, dieses Nichts. Nichts in ihrem Leben war mit diesem Erlebnis auch nur
annähernd vergleichbar. Sie, ein kleines, zerbrechliches Wesen auf einem anderen
Himmelskörper. An diesem Tag machte ihr diese Vorstellung jedoch Angst.
Jenseits jeglicher Stresssituation bemerkte sie, wie ihr Körper Unmengen an
Adrenalin ausschüttete.
Sie war sich damals, als Technikerinnen für den Aufbau der
ersten Farside-Station gesucht wurden, ihrer Sache, was sie tun wollte und wo,
so sicher gewesen, dass sie sich nur wenige Minuten nach Bekanntwerden der
Ausschreibung sofort für diese Stelle beworben hatte. Sogar ihr Date ließ sie dafür
sausen. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie das Gespräch tatsächlich
gelaufen war, was sie geantwortet oder erzählt hatte, sie wusste nur, dass ihr
bei der Verabschiedung alle Anwesenden ein anerkennendes Lächeln geschenkt
hatten. Vermutlich war sie damals ins Schwärmen geraten, was ihr eher selten
passierte, was ihr nur gelang, wenn sie es schaffte, über den Schatten ihrer
Schüchternheit zu springen, hatte dann exhibitionistisch ihre Träume und
Fantasien von der erfolgreichen Technikerin am Mond vor wildfremden Menschen
ausgebreitet und war offensichtlich dabei sehr überzeugend gewesen.
Nun war sie seit ihrem letzten Erdurlaub schon über sieben
Monate hier. In Summe bereits über drei Jahre. Bei ihrem letzten Besuch auf der
Erde spürte sie bereits, dass sich der lange Aufenthalt auf dem Mond bemerkbar
machte. Von mal zu mal wurde es für sie anstrengender, auf die Erde
zurückzukehren, sich dort zu bewegen und aufrecht zu halten. Tausende Tonnen
schienen auf ihren trainierten Schultern zu lasten und es kostete nicht nur
ihre letzten Energiereserven, sondern auch eine eiserne Beherrschung, um nicht
dem Druck nachzugeben und sich das Rückgrat wie einen Zahnstocher abknicken zu
lassen. Hier auf Luna fühlte sie sich nicht nur wohl – nein, hier fühlte sie
sich zu Hause. Ihre Körpergröße in ihrer offiziellen Kartei lautet auf einen
Meter achtundsechzig. Erst nach längerem Aufenthalt hier stellte sie fest, dass
sie mit einem Mal über einen Meter siebzig maß. Immer schon war es ihr Traum
gewesen, ihrer gewohnten Umgebung zu entfliehen, sie soweit wie möglich zurückzulassen,
auf eigenen Füßen zu stehen, neue Welten zu entdecken, neue Universen. Hier im
Tsiolkovsky-Krater konnte sie ihren Traum leben. Hier war der Schlag von
Menschen daheim, der vor beinahe hundert Jahren in der Amundsen-Scott-Base auf
dem Südpol überwinterte; und dieser Gedanke gefiel ihr. Menschen, die
körperlich und psychisch stabil und ausgeglichen waren und die kein Problem
damit hatten, monate- und jahrelang die gleichen sieben Gesichter zu sehen. Die
›Lehnsessel-Abenteurer‹, wie Nicole sie gerne nannte, waren hingegen auf der
Armstrong-Tranquillity-Base, nahe der Landestelle von Apollo 11 besser
aufgehoben, von wo aus man, vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben
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