Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition)
Tage die
Woche und zweiundfünfzig Wochen im Jahr, den nicht mehr ganz so blauen Planeten
sehen konnte und …
»Wir sollten wirklich besser zurückgehen«, hörte sie die
mechanische Stimme Rebeccas über die Intercom schnarren. »Zitterst du?«
»Nein …«, Nicole rang nach Luft. »Es ist nur … ich war grad
in Gedanken«, sagte sie und versuchte möglichst keine Emotion in ihre Stimme zu
legen. Mühsam bestieg sie für die nur knapp eine Minute dauernde Fahrt den
offenen Rover. Der Rover war zwar nur für zwanzig Kilometer in der Stunde
zugelassen, doch wen sollte das auf der fernen Seite des Mondes interessieren?
Rebecca ganz bestimmt nicht. Zulassung hin, Vorschriften her, fuhr Rebecca
ihren grausamen Stil, ohne sich von zu viel Bürokratie den Spaß verderben zu
lassen. Wenn das Vehikel Bodenkontakt verlor, meterweit durch die Luft flog,
bei der Landung Milliarden von Staubpartikel aufwirbelte, die auf perfekten
Parabeln durch das Vakuum stoben, dann war es kein verlorener Tag für sie
gewesen. An diesem Tag jedoch fuhr sie – sehr zu Nicoles Überraschung – konservativ.
Vermutlich will sie mich nicht gleich nach den ersten Metern aus dem Mondstaub
auflesen müssen, ging es ihr durch den Kopf. Nach einer Fahrt, die ihr das
Gefühl gab, sie müssten nun schon beinahe den halben Mond umrundet haben, hielt
Rebecca das Vehikel unweit von Nicoles Arbeitsstätte an.
Die Kabel waren bereits von den ›Ameisen‹ – wie sie die
sechsarmigen Roboter auch nannten – auf der dafür vorgesehen Trasse ausgelegt
worden.
Rebecca hielt Nicole stützend ihren Arm hin, damit sie beim
Absteigen nicht das Gleichgewicht verlor. »Danke«, hauchte diese.
»Was machen wir nun als erstes?«, wollte die Medizinerin
wissen.
Du machst gar nichts, hätte Nicole am liebsten geantwortet,
da sie der Außeneinsatz zu zweit bereits zu nerven begann. »Ich werde zuerst
einmal die Leistungsmodule der bestehenden Anbindungen überprüfen, bevor ich
die neuen einsetze und konfiguriere.«
»Okay«, antwortete Rebecca ohne auch nur eine entfernte Idee
von dem zu haben, was Nicole gleich machen würde.
»Du kannst mir aber die große Kiste mit der Leistungselektronik,
das ist die mit der Nummer drei auf dem Deckel, zu dem Schaltkasten tragen
helfen.«
»Selbstverständlich!«
Die massige Kiste hatte auf dem Mond zwar kaum ein Gewicht –
richtiger wäre es zu sagen, nur ein Sechstel des Gewichts auf der Erde –,
trotzdem ging Nicoles Atem rasch und keuchend, als sie ihre Last nach zehn
Metern wieder absetzte. Mein Atem geht ruhig und gleichmäßig, mein Atem geht
ruhig und gleichmäßig, mein Atem geht ruhig und gleichmäßig, sagte sie sich
solange vor, bis ihr Atem auf sie zu hören begann. »Holst du mir noch den
Werkzeugkasten vom Rover, bitte!«
Nicole, die (aufgrund des verspiegelten Visiers) Rebeccas
Augen nicht sehen konnte, fühlte einen sorgenvollen, intensiven Blick auf ihrem
Körper, ehe diese sich abwandte und zum Fahrzeug hüpfte; nicht jedoch ohne
dabei jede Menge Dreck in die nicht vorhandene Luft zu schleudern. Sie
schnappte die Tasche von der Ladefläche und staubte ebenso elegant, wie sie gekommen
war, zu ihrer Freundin zurück und stellte diese direkt vor ihren Füßen ab. Als
wären sie eingerostet, musste Nicole gegen den Widerstand ihrer Knie ankämpfen,
um sich hinabzubeugen, den Kasten zu öffnen und das faustgroße, brennstoffzellenbetriebene
Multifunktionstool zu entnehmen, das sie für ihre Arbeit benötigte. Mit einem
Mal erschien es ihr, als steckte sie in einem dieser mittelalterlichen
Raumanzüge, die steif und ungelenk waren, sich jeder Bewegung widersetzten und
eine feinmotorische Arbeit mit den Fingern nahezu unmöglich machten. Sie hatte
so ein Ding einmal in einem Nasa-Archiv probiert, hatte sich dabei gefühlt wie
in einer mit Gewichten beschwerten Ganzkörperzwangsjacke und nur noch
Bewunderung für die ersten Astronauten empfunden, die trotz dieses gewaltigen
Handicaps so grandiose Arbeit geleistet hatten. Ihr hingegen war es vergönnt,
einen modernen, ausgereiften Anzug der zwanzigsten – oder war es bereits einer
der einundzwanzigsten – Generation zu benutzen. Die Anzüge wurden nicht nur in
ihrer Größe auf die Trägerin zugeschnitten, sondern auch softwaremäßig auf
diese abgestimmt. Eine intelligente Kontrolleinheit wusste über alle
Bewegungsabläufe, deren räumliche und zeitliche Ausdehnungen sowie die
Kraftanstrengungen, die dahintersteckten, Bescheid und war in der Lage,
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