Die Frau von Tsiolkovsky (German Edition)
sie sich zurück an ihren Tisch und wählte die Nummer ihrer Projektmanagerin.
Als sie die Verbindung kaum fünfzehn Minuten später trennte,
hatte sich ihre Stimmung nicht verbessert, im Gegenteil, ihre Gereiztheit aber
eine deutliche Steigerung erfahren. Wie eine Löwin in ihrem viel zu engen Gehege
schlich sie in ihrer Kammer umher, lehnte sich gegen die Wand, starrte aus dem
winzigen Fenster in eine Freiheit, die keine war, und betrachtete sehnsüchtig
das Foto vom Mars, das auf ihrer Ablage stand; ein Bild von einem Planeten, der
nur darauf wartete, endlich von ihr betreten zu werden. Sie ergriff die
Photografie und bemerkte jetzt erst, dass ihre Hand zitterte und ihre Finger einen
durchsichtigen Film auf dem Rahmen hinterließen. Gerne hätte sie ihrem Trieb
nachgegeben und mit ihren Krallen die Wände der Kabine aufgerissen, die Polster
ihrer Koje aufgeschlitzt und mit einem Schlag ihrer Pranke das Bullauge zum
Bersten gebracht. Stattdessen schleuderte sie das Bild – in einem Aufwallen von
Zorn – mit aller Kraft gegen den Boden, dass es in tausende Teile zersplittern
möge. Doch der Kunststoff brach nicht. Wie zum Trotz zeigte der Rahmen noch
immer das Bild vom Mars. Wäre ein Orakel in der Lage gewesen, aus dem nicht
beschädigten Bild eine etwaige glückliche Fügung herauszulesen?
Noch vor Ende der Woche würde der Shuttle mit ihrem
Nachfolger eintreffen und bis dahin wollte sie die Station komplett wissen. Sie
wollte die Arbeit abgeschlossen, erledigt und beendet sehen, wenn sie von der
grauen Mondoberfläche abhob, um zum Atlantica-3-Raumdock zu fliegen. Nicht einmal
in ihren kühnsten Albträumen dachte sie daran, den Erfolg der Fertigstellung der
Basis einem anderen zu überlassen. »Die Tsiolkovsky-Farside-Base (TFB), die
erste Basis auf der erdabgewandten Seite des Mondes wurde fertiggestellt unter
Commander …« Ein Brechreiz machte sich bei dem Gedanken an diese Schlagzeile
bemerkbar und kalter Schweiß trat ihr auf die heiße Stirn. Sie ging auf die
einzige private Toilette in der Basis, die sich in ihrer Kammer befand, und
übergab sich. Niemanden mehr würde es interessieren, wie viel Zeit, Arbeit und
Nerven sie in den Ausbau der Basis gesteckt hatte. Ihr Magen zog sich erneut
zusammen, ihre Hände, die verkrampft die Klomuschel umfassten, als könnte sie
damit verhindern, dass diese bei der geringen Schwerkraft nicht davonschwebte, bebten.
Sie wollte an etwas Anderes denken, etwas Positives, etwas Erfreuliches, doch sie
war nicht in der Lage, ihre Gedanken in andere Bahnen zu lenken. Ohnmächtig und
ausgeliefert vor der Klomuschel kniend stand sie ihren Ängsten gegenüber – Shannon,
das perfekte Opfer. Immer wieder kehrten sie zu diesem einen Punkt zurück, der
nun nicht mehr in ihren Händen lag; den sie kaum noch beeinflussen konnte. Die
alleinige Macht über ihren Erfolg lag nun in den Händen einer 28-jährigen
Technikerin, die fiebernd in ihrer Koje lag und in ihrem Zustand keinen
zusammenhängenden Satz herausbrachte. Erneut übergab sie sich. Sie stand auf,
lehnte sich gegen das Waschbecken und sah in den Spiegel. Ehrgeizig und
selbstbewusst war das Konterfei, das ihr tief in die Augen sah. Verschwitzt fiel
ihr das Haar ins Gesicht. Sie wurde das Gefühl nicht los, an diesem Tag zehn
Jahre älter auszusehen als noch vor zwei Tagen. Vermutlich begann der Stress mit
seinem gnadenlosen Pinsel erste unübersehbare Spuren in ihre Physiognomie zu
zeichnen, dachte sie, und es war der erste Gedanke, der nicht die
Fertigstellung der Basis betraf. Sie kämmte ihr Haar, bürstete sorgfältig ihre
Mähne, ehe sie diese zu einem Pferdeschwanz zusammenband. Dann ließ sie sich
eine Handvoll Wasser in die Schale laufen, die sie mit ihren Händen formte, und
netzte damit ihr Gesicht. Dieses kostbare Nass, das jedem Bewohner der Station
nur in beschränkter Menge zur Verfügung stand; die Kommandantin stellte dabei
keine Ausnahme dar. Dann griff sie nach den winzigen Dosen mit den so
hautverjüngenden Substanzen und massierte nacheinander eine Q10-, R11- und S12-Emulsion
in ihr Gesicht ein. Als sie damit fertig war, betrachtete sie die Linien in
ihrem Gesicht. Sie waren noch genau so dominant wie zuvor. Lag es vielleicht an
dem harten Licht? Was soll’s, dachte sie, ist ja doch alles nur Täuschung. Bei diesem
Wort begann ein Gedanke in ihrem Gehirn Gestalt anzunehmen, ein Rettungsanker
in der tobenden See, ein Lichtpunkt in der zweiwöchigen Mondnacht, der Aufzug,
der endlich an ihrer Sprosse
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