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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Nimmst du an, dass er nicht wollte, dass es ihm so ergeht wie Agamemnon?«
    Wir sprachen leise und steckten die Köpfe zusammen. Ich hielt den Atem an. Mir war, als stürzte alles, was in meinem Leben geschehen war, in diesem Augenblick in den abscheulichen, dunklen Abgrund der Wahrheit.
    »Ich glaube«, flüsterte Amphinomos, »dass er sich fürchtete heimzukommen.«
    »Fürchtete er sich vor mir?«, fragte ich. Meine Stimme war leise wie ein Hauch. Amphinomos sah mir mit scharfem Blick in die Augen.
    »Wenn er sich nicht gefürchtet hätte«, flüsterte er, »wäre er nie von dir weggegangen.«
    »Glaubst du«, fragte ich und unser Atem vermischte sich mit warmem Dunst miteinander, »er fürchtet sich noch immer …?«
    »Vor dir und seinen Söhnen, ja«, flüsterte er ernst und sorgenvoll. »Er fürchtet sich vor der ganzen Familie.«
    »Ich verstehe«, sagte ich.
    Ich richtete mich auf. In diesem Augenblick mag ich – glaube ich – tatsächlich gelb und blass gewesen sein. Ich spielte mit den Blättern der Asphodelosblumen.
    »Und du, mein Freund«, sagte ich und sah ihn an, »du fürchtest dich nicht?«
    »Ich habe dem Tod ins Auge geschaut«, sagte er ausweichend und erwiderte meinen Blick nicht. »Vor wem soll ich mich noch fürchten. Vor dir? Oder vor ihm? Ich war schon am anderen Ufer, Penelope. Ich fürchte mich nur vor meinem Gewissen«, sagte er unvermittelt heiser.
    Ich konnte nicht anders: Auch in diesem Augenblick musste ich lächeln. Ich hatte gelernt, dass ein Mann, der in Gegenwart einer Frau vom Gewissen redet, sich mit Fluchtplänen trägt. Mich fröstelte. Die Nacht war kühl. Aber ich fror auf andere Weise … Ich begriff, dass Amphinomos’ Verwundung schlimmer war, als ich gedacht hatte. Mir wurde klar, dass ich nicht mehr auf ihn zählen konnte. Ich stand auf.
    »Dann ist es an der Zeit«, sagte ich leise, »dass wir uns trennen und du, mein Freund, in Ruhe mit deinem Gewissen sprechen kannst.«
    Auch er stand auf. Er rieb sich die Hände. In seinen treuen, braunen Hundeaugen standen Tränen.
    »Penelope«, sagte er, »du bist unbarmherzig. Du weißt, dass ich dich liebe.«
    »Ein Mann«, sagte ich und hörte überrascht, dass meine Stimme gläsern klang wie die der Priesterinnen beim Singen, »ein Mann, der lieber auf sein Gewissen hört als auf seine Geliebte, mag in den Augen der Menschen ein Held sein. Aber ich kann mit ihm nichts anfangen.«
    »Glaube nicht, ich wäre feige«, sagte er und knirschte mit den Zähnen. »Es wäre besser gewesen, wenn ich mit meinen Gefährten gestorben wäre. Aber ich bin dem Tod entkommen und habe begriffen, dass ich dennoch besiegt bin. Nicht von dem Burschen, der mir die Lanze in den Leib gestoßen hat«, er winkte verächtlich ab, »Ulysses hat mich besiegt, weil …«
    »Sag es nur«, ermunterte ich ihn. »Er hat dich besiegt, weil er meinetwegen zurückgekommen ist.«
    »Nein«, sagte er ernst und feierlich. Der kleine, verwundete Mann richtete sich jetzt auf und schien zu wachsen. Dann sagte er: »Er hat mich besiegt, weil er zurückgekommen ist und dich danach wieder verstoßen hat.«
    Das schmerzte. Ich schrie auf:
    »Das ist nicht wahr!«
    Traurig sah er mich an.
    »Du weißt genau, dass es wahr ist«, sagte er. »Was können wir, Penelope, du und ich, in dieser Lage anfangen, in die er uns versetzt hat? Solange er fort war, konnte man ihn hassen. Als er heimkam, konnte man ihn fürchten und gegen ihn kämpfen. Aber jetzt, nachdem er heimgekommen ist, gesiegt und dich dann mit einer Handbewegung weggeworfen hat – dich, den Schmuck und Sinn seines Sieges … Was können wir beide da anfangen, du und ich?«
    Ich antwortete nicht. In diesem Augenblick begriff ich, dass die Götter die Menschen mit ihrem Schicksal allein lassen. Ich begriff, was Achilleus, Hektor und Patroklos in diesem Augenblick empfunden haben mussten … in dem Augenblick, in dem der Mensch erfährt, dass sein Schicksal sich erfüllt hat und der göttliche Wille seine Schritte nicht mehr weiter lenkt. Ich begriff, dass ich einsam bleiben musste, weil mein Mann mein Schicksal war und mir – mit einer boshaften, großmütigen und gleichgültigen Geste – ein einsames Leben befohlen hatte.
    Ich gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er mich verlassen solle.
    XIII
    Nun war ich allein. In meinem Schoß schlug das Herz eines Kindes, aber auch dieser liebe Ton, dieses feine Klopfen konnte mich in den Monaten des Wartens und Reifens nicht vergessen lassen, dass das

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