Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
zerrann alles unter den Händen wie Sand. Telemachos verbarg sich zu jener Zeit geheimnisvoll. Mein Schwiegervater, der ruhmreiche Laertes, hatte kurz nach Ulysses’ Heimkehr einen Schlaganfall erlitten und lag hilflos in den unwirtlichen Sälen seines verlassenen Hauses. Die Heimkehr seines Sohnes, die darauf folgenden Ereignisse und der Umstand, dass Ulysses seine Heimat unverständlicherweise wieder verlassen hatte, hatten den armen Alten verhängnisvoll aufgeregt. Von Eumaios wusste ich, dass mein Schwiegervater sich mit keinem Wort nach mir erkundigt hatte und mit der stammelnden Rede der Gelähmten manchmal seinen herumtreiberischen Sohn verfluchte. Diese Nachrichten aus Haushalt und Familie betrübten mich zutiefst. Ich begriff, dass die Götter Ithaka ihre Gunst entzogen hatten.
Eumaios erzählte weiter, dass sich die allgemeine Aufregung in Argos und auf den Inseln inzwischen wieder gelegt hatte. Nach Ulysses’ Abreise begnügten sich die blutrünstigen Verwandten meiner Freier mit gelegentlichen Plündereien und damit, dass sie aus unserem verlassenen Haus systematisch die Geschenke der Getöteten zurückstahlen. Unter dem Eindruck all dieser schlechten Nachrichten dachte ich ernsthaft darüber nach, Ithaka in meiner Erinnerung zu begraben und nicht wieder auf die Insel zurückzukehren, wo die Fetzen meines Ehefrauen- und Mutterglücks vermoderten; an Ulysses, die Achäer, an alle und alles, was mir irgendwann Ithaka bedeutet hatte, wollte ich nur noch denken, als wären sie die blassen Schatten des Hades, liebe Verstorbene. All meine Gefühle und meine Aufmerksamkeit richtete ich nun auf den Neugeborenen. Ich überlegte, was wohl Ulysses bei unserem Wiedersehen zu dieser seiner übereilt ins Leben gerufenen Frucht sagen werde. Würde er auch ihn töten im Sinne der Ratschläge aus Delphi und Dodona, oder würde ihn das frühreife, ergreifend traurige Gesicht des Kindes an einen späten, glühenden Augenblick unserer sonderbaren Beziehung erinnern? In Wirklichkeit – in schlaflosen Nächten betrachtete ich lange das Gesicht des schlummernden Kindes – sah Ptolipathos Ulysses nicht ähnlich. Nun, und auch keinem meiner Freier. Hermes war goldblond, das Kind kastanienbraun. Ich spielte mit seinen seidigen Locken, erinnerte mich und rätselte, was Ulysses sagen würde, wenn ich ihm das Kind einmal in den Arm legte.
In solchen Nächten und Morgenstunden, wenn die rosenfingrige Morgenröte in mein trostloses Schlafgemach einkehrte – wo ich in sonderbarer Witwenschaft lebte wie die Priesterinnen der Aphrodite, die alle Geheimnisse der Liebe kennen und dennoch Jungfrauen sind –, in solchen Stunden hatte ich manchmal das Gefühl, als würde sich meine Persönlichkeit von mir abspalten. Ich hatte das Gefühl, als geschähe auch über die alltäglichen Ereignisse hinaus etwas mit mir und meinem Sohn. Als wäre ich durch den Willen meines sonderbaren Mannes oder vielleicht der Götter nicht mehr die Penelope, die ich in Ithaka war, sondern nur mehr ein Begriff. Ich hatte das Gefühl, mein Schicksal habe sich von mir gelöst und sei nicht mehr ganz das meine. An einem goldglänzenden Morgen nach solch einer Nacht fragte ich Theoklymenos:
»Ihr, die ihr über Schicksale singt, wisst ihr, wie ein Mensch aus dem irdischen Leben in die Welt der Sagen hinübertritt?«
»Herrin«, sagte der Sänger, »das ist wirklich ein geheimnisvoller Augenblick. Damit ein Mensch die Grenze seines eigenen Schicksals überschreiten und Gestalt einer Sage werden kann, braucht er übermenschliche Hilfe. Also den Willen eines Dichters oder …«
Er verstummte. Ich kam ihm zu Hilfe:
»Den Segen der Götter?«
»Die Götter«, sagte mein Hausdichter und blinzelte, »mögen es nicht, wenn die Menschen über die irdischen Grenzen hinausgehen und auf den Schwingen der geflügelten Sagentiere in eine Art Ewigkeit eingehen. Die Eifersucht, mit der sie die Arbeit der Dichter beobachten, ist allgemein bekannt. Aber es gibt Menschen, die eine besondere Fähigkeit dazu haben, sich mit den Göttern zu messen. Diese Menschen können ihre Mitmenschen zwingen, sich mit ihnen bei diesem fürchterlichen Unternehmen zusammenzutun.«
»Das sind die Künstler, die Dichter«, sagte ich gehorsam.
»Nein«, sagte er nervös und blinzelte wieder. »Es gibt Menschen, die mit der eigenartigen Wirkung ihres Wesens in uns Künstlern und Dichtern etwas zum Klingen bringen. Sie erheben sich über sich selbst, treten aus der Gewöhnlichkeit und werden zur
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