Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
zu Gast bei einer Nymphe warst, wie dein Vater. Du kannst sagen, dass wir Nymphen keine Menschen essen. Auch das ist das Vorrecht der Menschen, wie seit einiger Zeit alle Schrecklichkeiten!« Sie sprach leise und aufgebracht. »Wir Nymphen wollten die Wohltäterinnen der Menschheit sein. Wir lassen das Obst reifen, und indem wir die Menschen lehrten, dass man auch Obst essen kann, befreiten wir sie von dem verabscheuenswerten Gesetz des Kannibalismus, den sie gewissen, mit unersättlichem Appetit gesegneten Göttersöhnen nachgeäfft hatten. Wir waren die Ersten auf der Welt, die gewebt und gesponnen haben. Wir haben die Kleidung erfunden, die Scham entdeckt. Das war vielleicht ein Fehler«, sagte sie nachdenklich. »Unbekleidet, so scheint es, war der Mensch nicht so neugierig auf die Geheimnisse der Scham wie heutzutage, wo ein Schleier über den Körpern der Angehörigen des anderen Geschlechts liegt. Aber wir haben der undankbaren Welt noch viel mehr Gutes gebracht. Wir möchten gern, dass die Menschheit, wie im Goldenen Zeitalter, wieder ohne Mühen die Früchte der Erde genießen kann, deshalb haben meine Nymphen den Sklavinnen der Mahlmühlen die Arbeit abgenommen. Wir lehrten die Menschen, Myrrhe zu knabbern, und auch, Natron als Reinigungsmittel zu benutzen. Wir züchteten Bienen, damit das Leben ein wenig süß ist, wir verkündeten den großen Vorteil der Nähe von Gewässern, Bächen, Quellen und Flüssen. Wir lehrten die Menschen, dass alles, was lebt, aus der Feuchtigkeit stammt. Die Menschen jedoch haben nichts gelernt«, sagte die Nymphe finster. »Sie brauchen die Arbeit, brauchen die Scham. Sie brauchen es, dass sie ihre Menschengefährten auffressen. Und sie brauchen den Tod«, sagte sie streng.
Eine sonderbare Stille war im Zimmer eingekehrt. Es schien, als hätte das Gesetz der Zeit aufgehört zu herrschen. Ich wusste nicht, ob es noch Nacht war oder schon Morgen. Kalypso stand jetzt plötzlich auf, als hätte sie alles gesagt.
»Du musst müde sein«, sagte sie und lächelte unergründlich. »Wir haben genug gesprochen. Das Geheimnis der Schicksale darf ich dir nicht verraten … Ich kann dir nur eins sagen: Fürchte dich nicht vor deinem Vater. Er tötet dich nicht«, und wieder lächelte die Nymphe sonderbar und geheimnisvoll. »Eure Schicksale werden von den Parzen schon gesponnen. Jedenfalls tust du gut daran, deine eigenen Wege zu gehen und die Gesellschaft des Lichtbringers zu meiden. Jetzt komm mit mir!«
Mit raschen Schritten ging sie voran. Beunruhigt folgte ich ihr. Im prächtigen Hintergrund der Höhle verdeckte ein Vorhang den Eingang, der in einen kleinen Raum führte. Eine mit Bärenleder bedeckte, breite Liege nahm die gesamte Breite der Kammer ein.
»Hier hat dein Vater gewohnt«, sagte die Nymphe feierlich. »Sieben Jahre lang hat sein großartiger Körper hier geruht«, sagte sie leise und boshaft. »Ruhe dich aus, Junge!«
Ich ging in das Schlafkabinett und stand reglos und sehr verlegen vor der Liege. Das Zimmer war einfach. Die Vorstellung, dass mein Vater und die Nymphe sieben Jahre lang auf dieser Liege die Geheimnisse ihres gegenseitigen göttlichen und menschlichen Wesens kennengelernt hatten, war mir peinlich. Kalypso stand reglos und mit verschränkten Armen in der Tür und beobachtete mit einem dunklen Lächeln meine Verlegenheit.
»Göttin«, sagte ich, »in der Frühe reise ich ab. Danke für alles. Ich habe das Gefühl, dass ich nicht umsonst hier war. Alles, was du mich gelehrt hast, bleibt in meinem Herzen lebendig. Aber die Angst, die aufgeflammt ist, als der Lichtbringer heimkam, raucht mit dunkler Glut in Ithaka. Wir schlafen unruhig. Ich selbst träume oft von Hunden und Schlangen …«
»Weil du ein Achäer bist«, sagte Kalypso ernst. »Jedes Volk hat andere Traumsymbole. Dein Vater hat hier in diesem Zimmer gesagt, nach seinen unruhigen Nächten, in denen er von zu Hause träumte, dass in den Träumen vieler Achäer Hund und Schlange die Toten bedeuten.«
»Die Erinnerungen an die vielen Toten begleiten mich seit der Heimkehr meines Vaters«, sagte ich. »Ich schlafe unruhig. Ich möchte versöhnt an ihn denken, aber das Wissen, dass er irgendwo ist, plant und etwas vorbereitet, beunruhigt nicht nur die Götter, sondern auch uns Achäer, seine Familienmitglieder. Wir haben voller Angst auf ihn gewartet. Und jetzt, da er heimgekommen ist, auf schreckliche Weise Gerechtigkeit geschaffen und uns wieder verlassen hat, denken viele voller Wut an ihn.
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