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Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)

Titel: Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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mit uns. Wir bemühen uns, in Frieden zu leben, und wir pflegen die Erinnerung an den Mann, mit dem uns so oder anders, jedenfalls aber dem Blut nach, irgendetwas verbindet. Diese Aufgabe ist nicht einfach. Beinahe übermenschlich. Aber der Lichtbringer mochte übermenschliche Situationen. Alles in allem, glaube ich, ist es mir gelungen, meinen Vater kennenzulernen. Kalypso hat das Geheimnis gelüftet: Ulysses war Mensch … Jetzt habe ich alles über ihn gesagt. Oder jedenfalls alles, was ich sagen kann. Ich glaube, so war er – oder so ähnlich. Aber in Wirklichkeit kann ich nicht wissen, wie er war – ich war ja nur sein Sohn.

Dritter Gesang
    Telegonos

I
    Meine flechtenschöne Mutter, die strahlende Todesgöttin Kirke, erzog mich schon in meinem zartesten Alter dazu, auf unserem Gut die Schweine zu hüten.
    Diese Beschäftigung entsprach ganz meinen kindlichen Neigungen. In Gesellschaft von Schweinen verging meine Kindheit, und ich bewahre viele angenehme Erinnerungen an die Zeit, in der ich mit diesen grunzenden Gefährten meiner Jugend über Wiesen und Felder streifte. Später erfuhr ich erst, dass die Schweine, die meine Mutter mir jungem Hirten anvertraute, in Wirklichkeit verzauberte Menschen waren. Der Augenblick, in dem meine Mutter meinen Verstand aufklärte und ich begriff, dass der Mensch, dieses sonderbare Wesen, zugleich voller tierischer und göttlicher Möglichkeiten ist, wird mir immer in Erinnerung bleiben. Ebenso wie später der andere Augenblick, in dem ich die Insel Aiaia, meine Mutter, ihre Diener und die Schweine verließ, um bei den menschenartigen Menschen zu leben. Auch dieser Augenblick war fürchterlich. Ich erfuhr, dass mein Vater ein Mensch war, dass ich also – trotz meiner göttlichen Abstammung – selbst auch tierisch und göttlich, mit einem Wort menschlich bin. Dieses Wissen erschütterte meine junge Seele zutiefst. Ich fürchtete mich vor den Menschen. Ich fürchtete mich vor dem Tierischen in ihnen. Heute, da ich schon mehr über dieses sonderbare Geschlecht weiß, fürchte ich mich eher vor dem Menschlichen in ihnen.
    Mit den Schweinen kam ich leicht zurecht. Aiaia, der Besitz meiner Mutter, ist eine Insel des Ostens, also wasserreich, mit von starken Niederschlägen gesegnetem Ackerland und schattigen Wäldern, die reichlich Kornellen und Eicheln abwarfen. Meine Kindheit ist, dank der Gnade des Helios, meines Großvaters mütterlicherseits, voller sonnenbeschienener Erinnerungen. Meine Großmutter Perse und mein Urgroßvater mütterlicherseits, der wasserliebende Okeanos, überhäuften mich mit Wasserspielzeug: Niemals fehlten in den Buchten unserer Insel die schnell springenden, fetten Delfine, die fliegenden Fische, deren feuchte Flossen in den Strahlen von Helios’ Licht glänzten wie die Flughäute einer Libelle, und auch nicht die dickscherigen Krebse, die ich mit der Fischgabel jagte. Der kleine Sauhirt hatte Zeit, im Sand am sonnenbeschienenen Ufer mit den Wundern des Meeres zu spielen, während die seiner Sorge anvertrauten Schweine am Rande des schattigen Waldes friedlich Eicheln fraßen. Ich hatte meine Lieblinge unter ihnen: So erinnere ich mich an einen neunjährigen Eber mit lockigem, schwarzem Fell, der auf den lockenden Ton meiner Flöte grunzend zu mir eilte und mir die Eicheln aus der Hand fraß. Später erfuhr ich, dass dieses Schwein ein thesprotischer Fürst gewesen war, bis ihn sein Abenteurerblut in die Nähe meiner Mutter gebracht hatte.
    Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, erwachen zauberhafte Bilder zum Leben. Meine Mutter hatte mich, wie ich später verstand, zu Erziehungszwecken unter die Schweine geschickt. Sie wollte, dass ich rechtzeitig und gründlich die tierische Natur der Menschen kennenlerne – die der Menschen, mit denen ich in meinem späteren Leben so viele Probleme bekam. Die Insel Aiaia wurde selten von Menschen betreten: Die Toteninsel, die nur eine Tagesreise von der Totenwelt entfernt liegt, hatte an menschlichen Ufern einen fürchterlichen Ruf. Sterblichen, die sich auf unsere Insel verirrten, war mit wenigen Ausnahmen dasselbe Schicksal beschieden: Sie kamen in den Stall oder setzten ihr Leben als Schatten im nahen Hades fort. Mein Vater und seine Gefährten waren die große Ausnahme. Von alledem wusste ich in meiner Kindheit nichts. Ich genoss das Leben, die Freiheit, das Spiel und die Gesellschaft der Schweine. Später, als ich die Menschen nur noch in menschlicher Gestalt kennenlernte, konnte ich mich in ihrer

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