Die Frauen von Ithaka: Roman (German Edition)
Erziehungsmethode Auswirkungen auf meine Bildung haben könnte, und deshalb lehrte sie mich – in Ermangelung eines männlichen Erziehers – selbst die grundlegenden Kenntnisse der irdischen und der himmlischen Welt. Bücher und ähnlich niederes Zeug gab es auf der Insel Aiaia natürlich nicht, aber das war auch nicht nötig. Meine Mutter unterrichtete mich mit Liedern, aus denen ich alles lernte, was sich für den Sohn einer Göttin über Erde und Himmel zu wissen ziemt. Besonders die Geschichtsstunden liebte ich. Meine Mutter lehrte auch gern Erdkunde, von ihr hörte ich zum ersten Mal über den Trojanischen Krieg. Diese melodiösen Unterrichtsstunden – auf den Lichtungen des Buchenwaldes, denn meine Mutter war Anhängerin der Freilufterziehung, oder im Winter in der Nähe des dreibeinigen Glutkorbes – erwiesen sich als nützlich. Mein zarter Verstand füllte sich mit dem in den Liedern reichlich enthaltenen Wissen. Ich erfuhr, wie man aus Kräutern Arznei und Gift braut, wie man Tiere zähmt, Menschen verzaubert, Frauen bändigt, wie man töten muss und wie man den aus dem Hades zurückruft, den die Götter einmal dorthin geschickt haben … Meine Mutter war eine weise Frau und eine ausgezeichnete Lehrerin. Ich lernte bereitwillig und schnell. Die Melodie ihrer Lieder war manchmal lehrreicher als der Text. Als ich ein junger Mann geworden war, wusste ich im Großen und Ganzen alles, was der Sohn einer Göttin auf der Insel Aiaia – nah bei seinen göttlichen Verwandten, dem Großvater Helios und dem Urgroßvater Okeanos – wissen musste.
Meine Mutter verschwieg mir jedoch, dass ich nicht nur ein Göttersohn, sondern auch der Abkömmling eines Menschen bin. Und als ich erfuhr, was der Mensch auf der Welt braucht, um seinen Mann zu stehen, erwiesen sich die erlernten Kenntnisse als unzureichend. Das menschliche Wesen ist in seinem Elend gezwungen, vieles zu lernen, wenn es in der Welt zurechtkommen will, die die spitzfindigen Götter für es vorbereitet haben. An meinem Kinn spross schon der erste Flaum, als ich erfuhr, dass die Erziehung, die ich von meiner Mutter und meinen Ammen erhalten hatte, lückenhaft war.
Meine mit Spiel, Schweinehüten und Lernen ausgefüllte Kindheit war dennoch traumhaft und glücklich. Aiaia war eine Toteninsel, aber ich empfand die Stimmung des Ortes keinen Augenblick lang als bedrückend. Später, als ich auf die schaudernd-neugierigen Fragen der Menschen antworten musste, stellte ich verwundert fest, was für falsche Ansichten und irrigen Theorien diese unvollkommenen Wesen im Zusammenhang mit dem Tod und seinem Reich, dem Hades, hatten! Was die Toteninsel angeht, so glaubten sie, dass dort tiefe Dunkelheit herrsche und nichts anderes zu hören sei als Zähneknirschen. Ich musste lachen, als ich dies hörte. Die Totenwelt ist nur weltfern – das ist der große Vorteil dieses Ortes! – und überhaupt nicht dunkel! Meine Kindheit auf der Insel des Todes verging in einem ständig glänzenden, süßen und reifen Licht! Welche Freude war es, wenn ich mich im Sommer früh am Morgen in den Stall stahl – meine strahlende Mutter und ihre Diener schliefen noch – und dabei war, wenn die feurigen Rosse vor den Wagen meines strahlenden Großvaters Helios gespannt wurden! Die Pferde wieherten mir freundlich zu, die flinken Pferdeknechte meines Großvaters wuschen den goldenen Wagen jeden Morgen strahlend sauber, und der alte Herr erschien, seiner Weltenrolle getreu, mit pflichtbewusster Pünktlichkeit jeden Morgen, um seinen Platz auf dem Bock der leichten Kutsche einzunehmen und in sein Büro, das Weltall, zu fahren. In den Spuren der Pferdehufe funkelte der Goldstaub, den die Griechen Atom nennen … Die Kutsche jagte mit klingenden Rädern hinauf auf der himmlischen Landstraße, und die Welt füllte sich mit triumphierendem Licht. Mein hehrer Großvater winkte mir vom Bock lachend zu, und abends, wenn er zur Ruhe ging, brachte er mir oft Sternenstaub oder sonderbare, aus Wolken geknetete Spielsachen mit, die an Wassertiere erinnerten und auf die ich mich am nächsten Tag legte, wenn ich in der Bucht gebadet hatte. Manchmal erlaubte er mir auch, ihn auf seiner morgendlichen Fahrt zu begleiten. Unvergesslich sind mir die Augenblicke, die ich an der Seite meines Großvaters auf dem Bock der märchenhaften Kutsche auf den funkensprühenden Himmelsstraßen verbrachte. Die Erde war fern und sah wie ein winziger, bedauernswerter Spielball aus. Die Sterne kreisten um uns, und ich
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