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Die Frauen

Die Frauen

Titel: Die Frauen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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halb sieben mit dem Läuten der Glocke, worauf um sieben das Frühstück folgte. Wir aßen alle zusammen, bis auf Wrieto-San und Mrs. Wright, die ihre Mahlzeiten in einem privaten Esszimmer neben dem größeren, für die Schüler bestimmten Speiseraum einnahmen, und mochte es uns auch gelegentlich an Fleisch mangeln, so gab es doch immer Eier und Pfannkuchen und dazu Haferflocken in Mengen, die als Ballast für ein Linienschiff ausgereicht hätten (Wrieto-San glaubte fest an den besonderen Wert von Haferflocken, die in seinen Augen sowohl Brennstoff als auch eine Art Scheuermittel für den Körper waren). In späteren Jahren, als Svetlana vom musikalischen Wunderkind zur Dirigentin geworden war, folgte auf das Frühstück eine halbstündige Chorprobe unter ihrer Leitung, aber im Herbst 1933 machten wir uns noch direkt an die Arbeit. Es gab eine Mittagspause von zwölf bis halb zwei, dann wurde bis um fünf weitergearbeitet, und um sechs gab es Abendessen.
    Samstagabends mussten wir uns in Schale werfen, und nach dem Essen spielten die Musikbegabten unter uns - zu denen ich nicht gehörte - den anderen Schülern, Wrieto-San und seiner Familie sowie etwaigen potentiellen Auftraggebern oder sonstigen Gästen etwas vor. Das Frühstück am Sonntag war die Belohnung nach einer langen Sechstagewoche, da gab es Marmelade, Speck, Schinken, Eier, weiche Brötchen und Kuchen, und bei dem förmlichen Abendessen in dem unvergleichlichen Wohnzimmer schließlich durften wir uns alle an diesem Meisterstück der organischen Architektur in ihrer höchsten Blüte weiden. Um zehn war Zapfenstreich, was durch die Abschaltung der hydroelektrischen Anlage bekräftigt wurde.
    Natürlich waren die Isolation und sonstigen Unbilden des Landlebens nicht jedermanns Sache, und einige Schüler verließen Taliesin nach dem ersten Jahr, darunter auch vier der fünf Frauen. Von der einen, die blieb, Esther Grunstein, einer Zwei- oder Dreiundzwanzigjährigen von geradezu übernatürlicher Reizlosigkeit, die gern sackartige Kleider trug, riesige Hände sowie einen Krauskopf hatte, der stets den Eindruck erweckte, sie trüge eine Haube, hieß es, sie stehe jedem der Männer zu einem je nach Laune festgesetzten Preis zur Verfügung. Sie ging - das hatte ich von Herbert Mohl - »nicht bis zum Letzten«, aber sie machte es mit der Hand, wie man so schön sagt, und wenn ihr danach war und der Schüler genug Geld hatte, auch mit dem Mund. Meine Beziehung zu ihr war strikt kollegial, das sollte ich hier anmerken, allerdings ließ die Isolation, kombiniert mit der frischen Luft und der vielen Bewegung, bei uns allen die Säfte steigen, so dass sogar sie mir schließlich, in der äußersten Not, zu gefallen begann. Doch dann war es Oktober und ein Trupp neuer Schüler erschien, mit Koffern und frisch ausgestellten Schecks ausgerüstet, und zu unser großen Erleichterung sahen wir, dass vier Frauen darunter waren. Und viel wichtiger noch:
    Eine dieser Frauen war Daisy Hartnett.
    Am Tag von Daisys Ankunft war ich in dem Studio im Hauptgebäude und arbeitete zusammen mit Herbert und Wes an den Rohentwürfen für eine Zeitungsdruckerei in Oregon, die letztlich nie gebaut wurde, als das Telefon läutete. Wir konnten das Läuten alle deutlich hören, so wie wir auch jedes Wort verstanden, das Wrieto-San in die Sprechmuschel sagte, wenn er Kunden umwarb und Gläubiger vertröstete, denn sein Büro war nur durch den hohen Steintresor, in dem er die kostbarsten seiner japanischen Holzschnitte aufbewahrte, von dem Studio getrennt. Ein Klicken, als der Hörer von der Gabel genommen wurde, dann legte sich Wrieto-Sans einschmeichelnde Tenorstimme über die durchbrochene Stille. »Wer?« fragte er. »Schüler? Am Bahnhof, haben Sie gesagt?«
    Im nächsten Moment erschien Wrieto-San, wie er hundertmal am Tag erschien, um unsere Zeichnungen zu überarbeiten, ein Holzscheit ins Feuer zu werfen, sich den einen oder anderen von uns herauszugreifen, damit er einen Botengang erledigte, in der Küche einsprang oder auf die Felder hinaustrabte, um frische Wildblumen für die zahllosen Vasen zu pflücken, die übers ganze Haus verteilt waren. Wir standen alle auf, so wie jedesmal, wenn er das Studio betrat, auch wenn wir gerade völlig in unsere Arbeit vertieft waren. Er kam direkt an meinen Tisch. »Tadashi«, sagte er und beugte sich vor, einen frisch gespitzten Bleistift in der Hand, der nach Graphit und Zedernspänen roch, »Sie müssten bitte zum Bahnhof fahren und zwei der neuen

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