Die Frauen
»Miriam!« rief er. »Miriam, bist du dadrinnen?« Nichts. Kein Laut. Er ging außen herum zum Fenster, doch auch das hatte sie verschlossen und ein Stück Stoff - war das ein Bettlaken? - am Rahmen befestigt, so dass er nicht hineinsehen konnte. Ärger wallte in ihm auf.* Er schlug mit der flachen Hand gegen das Fenster und rief abermals ihren Namen. Man beobachtete ihn - zwei Steinmetzen, die den Hügel hinunter zur Kneipe gingen, waren bei der Garage stehengeblieben, um das Spektakel zu verfolgen, und eines der Dienstmädchen, das mit einem Eimer voller Küchenabfälle zum Schweinekoben unterwegs war, gesellte sich zu ihnen. Er fluchte halblaut. Konnte er denn gar keine Privatsphäre haben? War das zuviel verlangt? Im nächsten Augenblick stand er wieder vor der Tür, und diesmal stemmte er sich mit der Schulter dagegen und spürte, dass sie nachgab: Ein Möbelstück rutschte nach hinten, und die Tür ließ sich gerade so weit öffnen, dass er in das verdunkelte Zimmer sehen konnte.
* Das ist milde ausgedrückt. Wie ich bereits angedeutet habe, waren Wrieto-Sans Ausbrüche wie eine Naturgewalt: wilde, flammende, verletzende Wut, die um so schlimmer war, als er eine beißend scharfe Zunge hatte.
Zunächst konnte er nichts erkennen. Als seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, dass sie eine Reihe schattenhafter Objekte an die Wände genagelt hatte, ohne Rücksicht auf den Putz und die eingebetteten Holzbalken, und bei diesem Anblick wallte abermals Ärger in ihm auf. Was war das? Zeichnungen? »Miriam!« rief er noch einmal, und als sie wieder nicht antwortete, warf er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür, bis die Barrikade - ein Schreibtisch, auf den der Tisch sowie zwei Stühle getürmt waren - mit einem Splittern und Krachen, das Tote hätte wecken können, umstürzte und er im Zimmer stand. Miriam war nicht da. Er schaltete die Lampe ein, und die Wände sprangen ihn an. Ja, Zeichnungen, Dutzende Zeichnungen, Skizzen von seinem Kopf aus jedem denkbaren Winkel, die Gesichtszüge kantig und monumental, die gewellten Haare vom Rand des Blatts abgeschnitten, die Augenhöhlen so tief wie die Beethovens, die Augen jedoch unheimlich leer. Was war das? Auf dem Bett lagen Kleider, als würde hier ein Flohmarkt veranstaltet, auf dem Boden Unterwäsche, Hüte und Schuhe, eine zerbrochene Teetasse, eine Handvoll Dachnägel und der Hammer, mit dem sie diese Skizzen gekreuzigt hatte. Ihre Hausschuhe. Ihr Morgenrock. Die vertikale Fläche der Badezimmertür.
»Miriam ?«
Er stieß die Tür auf. Die erste leise Regung von Unruhe durchlief ihn wie ein schwacher elektrischer Strom - und da war sie. In der Badewanne. Sie schlief. Oder meditierte -vielleicht meditierte sie. Suchte die Kühle, das Dunkel. Sie hatte doch über Kopfschmerzen geklagt, nicht? Das war es, das musste es sein. »Miriam?« versuchte er es abermals.
Ihre Augen waren fest geschlossen, die Lider bläulich, die Wimpern verklebt, und der Kopf ruhte an der Wand. Und ihr Mund, ihr Mund stand offen über dem dunklen Schlund. Sie schlief, natürlich schlief sie, das war alles. Sein erster Gedanke war, dass sie ein Bad genommen hatte und eingenickt war, doch sie trug ihr Nachthemd - es war nass und wirkte, als wäre es auf ihren Körper gemalt -, und das Wasser stand nur ein paar Zentimeter hoch in der Wanne und floss langsam und leise gurgelnd ab. Erst da - es kam wie ein Schock, als hätte man ihn ins Gesicht geschlagen - bemerkte er die Nadel.
Eine Nadel. Eine Spritze. Eines von diesen Dingern, die ein Arzt für Injektionen gebrauchte. Es klebte an der glatten weißen Haut ihres Oberschenkels, völlig fehl am Platz, falsch, ganz und gar falsch, und er konnte nur an einen Parasiten denken, an irgendeine aufgeblähte Zecke, einen Egel, der sich dort festgesaugt hatte und nicht dorthin gehörte. Ohne nachzudenken, griff er nach dem Ding, nach dem kalten Metall und Glas, zog es vorsichtig aus ihrem Fleisch - ein kleiner Blutstropfen, eine gelbliche Verfärbung rings um den Einstich - und legte es auf den Rand des Waschbeckens. »Miriam«, sagte er leise und nahm ihr Handgelenk. »Miriam, wach auf.«
Sie zeigte keine Reaktion.
Er zog sie an sich, schlug ihr einmal, zweimal, noch einmal ins Gesicht, bis ihre Lider flatterten, und wo war das Riechsalz? Wo hatten sie das Riechsalz? Ihr Atem war schal und schlug ihm mit einem Geruch nach Sumpfpflanzen ins Gesicht, nach Rohrkolben und Pontederien und anderen Gewächsen, die unter
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