Die Freundin meines Sohnes
Treppengeländer nach mir rief und wissen wollte, wie ich bei der Chemiearbeit abgeschnitten habe. Ich hörte sie, als säße sie hinter mir auf der Rückbank, und bekam Gänsehaut. Diese Art von Halluzinationen waren eine Folge meines Alters, da bin ich mir sicher, der größere Teil meines Lebens lag ja bereits hinter mir, und ganz gleich, welche medizinischen Fortschritte die nächsten Jahrzehnte brachten, hatte ich nicht mehr so viele neue Jahre vor mir wie verstaubte alte hinter mir. Mit dreiundfünfzig ist man der, der man ist, und selbst wenn der Mensch, der man ist, glücklich und zufrieden ist, ist es – und das haut einen um – sowieso zu spät. Meine dreiundfünfzig Jahre alten übergewichtigen Diabetiker würden innerhalb von fünfzehn Jahren an einem Schlaganfall sterben, meine dreiundfünfzig Jahre alten Manager auf der mittleren Ebene würden, aufgrund von Bluthochdruck und sitzenderTätigkeit, an Nierenversagen sterben. Abnehmen würden sie nicht, sie würden auch nicht anfangen, Sport zu treiben, womöglich würden sie sogar vergessen, ihre Medikamente zu nehmen. Sie waren dreiundfünfzig, sie waren die, die sie waren. Wie schon so viele Ärzte vor mir festgestellt haben, ist es oft einfacher zu sterben, als sich zu ändern.
Mr. Stern senior – er wollte, dass ich Niels zu ihm sagte, aber das brachte ich nicht fertig – betrieb dreißig Jahre lang eine chemische Reinigung im Stadtzentrum von Philadelphia, unweit des Rittenhouse Square. Manchmal fand er Ketten mit Türkisen oder Perlenohrringe in den Manteltaschen seiner Kunden, und weil es ihn nervös machte, solche kleinen Kostbarkeiten im Geschäft zu haben, fuhr er nach Ladenschluss lieber zu den Besitzern nach Hause und lieferte sie ab. Einmal fand er ein Tütchen Kokain in der Tasche eines Dreiteilers (er wusste gar nicht so genau, was ihm da in die Hände gefallen war, aber Joes Schwester Annie rieb sich einen Krümel aufs Zahnfleisch und bestätigte es ihm). Er war so aufgeregt, dass er kaum noch richtig sprechen konnte, und, überzeugt, dass kolumbianische Drogenbarone seinen kleinen Laden überfallen und seine Näherin vergewaltigen würden, fuhr er über die Ben-Franklin-Brücke nach Camden und warf das Tütchen an einer schmuddeligen Stelle in den Delaware.
Mr. Stern war fünfundsechzig, als bei ihm Darmkrebs diagnostiziert wurde. Es war ein Todesurteil, und Joe fragte mich, ob ich mit ihm zusammen seinen Vater besuchen wollte, denn der alte Herr hatte mich immer gemocht. Joe machte wohl die Vorstellung, seinem sterbenden Vater allein gegenüberzutreten, nervös.
»Er möchte noch die Geburt des Kindes erleben«, sagte Joe, als wir zu Joes Elternhaus fuhren, und kurbelte das Fenster auf seiner Seite einen Spaltbreit runter, so dass die von der Schnellstraße aufsteigenden Abgase ins Auto drangen. Iriswar mit Neal im siebten Monat schwanger, und sie wussten, dass es ein Junge wurde.
»Was meinst du?«
»Ich hab mit seinen Ärzten gesprochen«, sagte Joe. »Es ist wenig wahrscheinlich. Er hat schon Metastasen in der Leber, die Tumore sind faustgroß. Sie geben ihm noch sechs Wochen, zwei Monate vielleicht. Er kriegt jetzt Kodein gegen die Schmerzen, an eine Operation ist gar nicht mehr zu denken.«
Aus irgendeinem Grund hatte Joes Vater mich immer für einen Intellektuellen gehalten und behandelte mich, als hätte ich Verstand und Bildung, seinen Sohn hielt er für einen Fachidioten. Das war natürlich nicht fair und stimmte auch nicht, dennoch sonnte ich mich in der Anerkennung, die der alte Herr mir unausgesprochen zollte. Als wir uns kennenlernten, steckte ich, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, gerade mitten in einem Seminar über Melville, das ich für einen Nachweis brauchte. Mein Hardcover-Exemplar von Melvilles Moby Dick war mir aus dem Rucksack gefallen (wir saßen im Studentenwerk und tranken Kaffee – die Sterns machten einen Zwischenstopp auf dem Rückweg von einem Wochenende in Ohio), und Mr. Stern war entzückt.
»Endlich war der Anker gekattet, die Segel wurden gesetzt, und wir glitten davon«, murmelte er mit seinem märchenhaften deutschen Akzent. »Es war ein kurzer und kalter Weihnachtstag, und als der kurze Tag des Nordens mit der Nacht verschmolz, standen wir schon beinahe auf der hohen See des winterlichen Weltmeeres, dessen gefrierende Gischt uns in Eis hüllte wie in einen glänzenden Harnisch.«
»Wie bitte?«
»Dein Buch«, sagte er und hob den Band vom Boden auf. Ich trug ihn schon seit Wochen
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