Die Friesenrose
Schlafzimmer mit Blick aufs Meer. Inken öffnete das Fenster und gab sich mit geschlossenen Augen den vertrauten Geräuschen hin. „Vielleicht müssen diese geschenkten Tage für ein ganzes Leben reichen“, ging es ihr durch den Sinn, und für einen Moment überkam sie tiefe Traurigkeit. „Aber niemand wird sie uns nehmen können!“
Doch dann schüttelte sie sich kurz und eilte leichtfüßig wieder nach unten, wo Cirk im Kamin des Wohnzimmers ein Feuer entfachte, nachdem es mittlerweile an den Abenden schon empfindlich kühl wurde. Er bückte sich, nahm ein Holzscheit aus dem Korb neben dem Kamin und warf es in die Flammen.
„Morgen kommt ein Insulaner und füllt uns die Speisekammer. Tjalda hat scheinbar überall ihre Leute. Sie verwöhnt uns.“ Er lächelte Inken zu. „Sie weiß, dass man nicht allein von Luft und Liebe leben kann.“
„Aber ohne Liebe auch nicht.“ Inken umarmte ihn von hinten und schmiegte ihr Gesicht an seine Schulter. „Es ist seltsam. Dieses Haus nimmt einem jegliches Zeitgefühl, und doch habe ich mich niemals gegenwärtiger gefühlt als hier und heute.“
„Wir werden den Augenblick leben, Inken. Für uns braucht die Zeit nicht wichtig zu sein.“ Cirk drehte sich zu ihr um. „Was mich angeht, kann sie einfach aufhören zu existieren.“
Und so war es auch. Die Tage und Nächte verschmolzen ohne den Zwang fester Mahlzeiten oder nachzugehenden Verpflichtungen zu einer einzigen Einheit. Und das Wetter meinte es gut mit ihnen. Tagsüber schien die Sonne und lockte sie für viele Stunden nach draußen an den Strand, wo sie weite Spaziergänge machten und stundenlang die Schiffe mit ihren geblähten Segeln beobachteten, die wie fremde Wesen an ihnen vorbeizogen. Wenn Inken den warmen Sand durch die Finger rieseln ließ, verbot sie sich, dabei an die verrinnende Zeit zu denken. So wie sie es sich überhaupt verbot, viel nachzudenken.
Manchmal beobachtete sie Cirk heimlich. Sie versuchte, sich sein Bild ins Gedächtnis einzumeißeln. Mitunter drehteer den Kopf, und es entging ihm nicht, dass sie ihn betrachtete. Ein eigentümlicher Ausdruck trat dann in seine Augen. So als quäle ihn ein schlechtes Gewissen. Vielleicht, weil er sie schon so bald wieder verlassen musste.
Dann aber war er wieder ausgelassen wie ein Kind, und sie tollten mit nackten Füßen am Meeressaum und spritzten sich gegenseitig nass. Die salzhaltige Brise würzte die laue Luft. Cirk sammelte Muscheln für Inken, und die größten und schönsten fanden einen Ehrenplatz auf dem Kamin. Immer wieder zog es sie auch in den kleinen Garten des Hauses. Inken bereitete ihnen Tee zu, und Cirk trug Hocker hinaus. Mit dem Rücken an die warme Mauer gelehnt, genossen sie schweigend das Getränk und die jeweilige Nähe des anderen. Später gingen sie meist zurück an den Strand, um dort fasziniert die blutroten Sonnenuntergänge zu verfolgen.
Am schönsten aber waren die Abende. Die Vorhänge wurden zugezogen, und im Kamin prasselte ein Feuer. Sie schoben den niedrigen Tisch dicht an die Wärmequelle und lauschten bei einem guten Wein und einer reichlichen Mahlzeit dem Knistern des Holzes. Manchmal kam ein so starker Wind von See, dass die Fensterscheiben des alten Hauses klirrten. Aber das machte ihre Abgeschiedenheit, ihr Entrücktsein, nur noch intensiver. Lange Gespräche führten sie an diesen Abenden. Allerdings versetzte der Umstand, dass Cirk noch immer Teile seiner Vergangenheit aussparte, Inken manchmal einen Stich. Aber dann beruhigte sie sich mit dem Gedanken, dass die dunklen Seiten seiner Geschichte in diesen wenigen, hellen Tagen vielleicht wirklich nichts zu suchen hatten. Stattdessen erzählte Cirk ihr viel über die Zeit, seit er Tjalda kannte, über seine Reisen in ferne Länder und die Besuche bei seinem Freund Thomas Devon in England.An einem Abend kam die Rede sogar auf Lucia, und Inken verspürte Eifersucht in sich aufsteigen. Ein Gefühl, das ihr bislang fremd gewesen war.
„Sie hat pechschwarzes Haar“, beschrieb Cirk die Engländerin, „und ist einfach wunderschön, Inken. Ich glaube, kein Mann kann ihre Schönheit ignorieren. Zumal Lucia es mit ihrem ganzen Wesen geradezu herausfordert, sich um sie zu kümmern. Und dies in vielerlei Hinsicht.“ Er zog ein schiefes Gesicht. „Dabei ist sie weiß Gott kein Engel. Ganz im Gegenteil, aber es will einfach niemandem gelingen, dieses Mädchen zu zähmen. Lucia ist wie ein Kind. Was sie will, das nimmt sie sich einfach. Gleichzeitig macht sie es
Weitere Kostenlose Bücher