Die Frühreifen (German Edition)
die Arbeiten zu überwachen, die er in Auftrag gegeben hatte, sah er deutlich, daß die beiden Wesen, die es noch bewohnten, wie Blinde am Rande eines Abgrunds entlangtappten, und dieser Anblick machte ihn krank. Trotz allem hielt er seine Anwesenheit für unerläßlich – wenigstens konnte er das Gas abstellen, das Seil durchschneiden oder die Beratungsstelle für Vergiftungen anrufen, falls es soweit kommen sollte, ja, aber lassen wir das, er meinte das nur halb im Scherz.
Wenn er nicht selbst verrückt werden wollte, mußte er sich beschäftigen, mußte er um jeden Preis die Untätigkeit bekämpfen, die ihn in diesen düsteren Tagen voller Ungewißheit auf dem Hügel erwartete, und ohne überhaupt darüber nachgedacht zu haben, leitete er auf einmal wie durch ein Wunder eine richtige Baustelle und mußte sechs Typen beaufsichtigen, die ihre Zeit damit verbrachten, Zigaretten zu rauchen, sich zu entfernen, um mit ihren Frauen oder ihren Geliebten zu telefonieren, sich ohne ersichtlichen Grund hinzusetzen und Däumchen zu drehen, in die Kloschüsseln zu pissen, ohne die Brille hochzuklappen, oder blöde Witze zu reißen, was nicht gerade ein Sonntagsvergnügen war.
Aber mein Gott! – was für eine dumpfe Stille trat plötzlich ein, nachdem sie mit Radau in ihren Lieferwagen davongefahren waren. Wie kam es bloß, daß diese verflixten Kerle so unbekümmert, so aufgedreht waren? Wie hatte ihnen das Leben nur das Singen beibringen können? Und um das Maß vollzumachen, beendete Gina obendrein um die gleiche Zeit ihr Tagewerk und verschwand ebenfalls, da sie offensichtlich nicht sehr erpicht darauf war, länger an einem derart trostlosen Ort zu verweilen.
Allerdings ließ es sich nicht leugnen, daß er ihr kein fröhliches Beisammensein, keinen heiteren Abend hätte versprechen können, sobald die Dunkelheit heraufzog.
Und so irrte er allein von einem Zimmer ins andere, vom Keller, in dem Lisas Sachen in Kisten aufgestapelt waren, bis zu den Schlafzimmern, die er lange von der Türschwelle aus musterte, ehe er sie betrat. Manchmal ging sein Atem schneller, dann lief er rasch wieder nach unten. Im Wohnzimmer fand er die Spuren einer entfernten Vergangenheit wieder, jene Wand voller Fotos zum Ruhm von Laure Trendel, strahlend und bezaubernd, hier umgeben von ihren Kindern, dort am Arm ihres Mannes Richard Trendel – des berühmten Schriftstellers und späteren notorischen Drogensüchtigen und schließlich unwürdigen Ehemannes und Vaters, dem zu einer Medaille nur noch Mord und homosexuelle Erfahrungen fehlten.
Wo hatte er sich bloß verkrochen, dieser degenerierte Hund? Wo versteckte sie sich, diese herzlose Bestie, die alle Hoffnungen, die man in sie gesetzt hatte, beharrlich mit Füßen trat? André nahm das Foto von der Wand und betrachtete das Gesicht seines Sohns aus solcher Nähe, daß er fast schielen mußte, um zu sehen, ob sich darin schon ein Anzeichen entdecken ließ, das die späteren Entgleisungen ankündigte, die Finsternis, in der er sie alle ohne zu zögern begraben würde – aber mit dreißig Jahren wirkte dieser kleine Lump noch wie ein Engel, und André war zu jener gesegneten, viel zu kurzen Zeit, die wie ein Meteor verglüht war, so stolz auf ihn gewesen, daß er fast zwitscherte, wenn er seinen Namen aussprach.
Éric, der Homosexuelle, der Agent dieser armen Laure – die Sache war einfach: André hatte nicht den Mut, sich an die Stelle einer Frau zu versetzen, die so viele Schicksalsschläge innerhalb weniger Monate erlitten hatte –, also Éric, dieser knackige Bursche, der Schwule mit dem strohblond gefärbtem Haar, sorgte dafür, daß das Schiff nicht endgültig in die Tiefe gerissen wurde, indem er Leute mitbrachte und sympathische kleine Feten improvisierte, auf denen es zum guten Ton gehörte, daß nur über andere Dinge gesprochen wurde.
Und das gelang ihm. André mußte zugeben, daß diese Typen das Talent besaßen, aus dem Stegreif nette Zusammenkünfte zu organisieren, er schätzte die Gespräche, die dort geführt wurden, während man farbenfrohe Cocktails hinunterkippte, die Éric persönlich zubereitete – »Au weia, Éric, sagen Sie mal, dieser blaue da ist verdammt stark, aber echt gut!« –, er schätzte es, die Wärme zu spüren, die durch seine Adern rann, die Befreiung, die eine leichte Trunkenheit verschaffte, lächelnden Gesichtern und in Duftwolken eingehüllten hübschen Frauen zu begegnen, die zungenfertig und überschwenglich waren, auch wenn es nur ein paar
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