Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
Vom Netzwerk:
Stunden dauerte.
    »Ein Glück, daß Sie da sind«, hatte er zu ihm gesagt. »Haben Sie vielen Dank für alles, was Sie für uns tun. Wenn Sie wüßten, wie trostlos dieses Haus ist, mein armer Freund!«
    »Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Warum hat er sie nicht einfach umgebracht? Warum hat er seinen Gedankengang nicht konsequent zu Ende geführt?«
    »Schon als Kind, als kleines Kind, war Richard richtig widerspenstig. Rose und ich können ein Lied davon singen, o ja. Sie können sich nicht vorstellen, wie oft er mich auf die Palme gebracht hat, mein Lieber. Er hat sich nie davor gescheut, jemanden zu verletzen.«
    Wenn André Trendel über seinen Sohn sprach, zerdrückte er oft eine stille, heiße Träne. Eines Abends brach er buchstäblich in Schluchzen aus, während er sich die Zähne putzte.
    Draußen schien der Mond. André rieb sich die Nase und wischte sich die Tränen mit Papiertaschentüchern ab, die er dutzendweise verbrauchte. Ein leichter Nebel legte sich über den Garten, der inzwischen wieder leer war, nachdem die letzten Besucher gegangen waren – zwei völlig betrunkene Paare waren eine halbe Stunde zuvor, gegen vier Uhr morgens, im Zickzack durch die Einfahrt getorkelt und dann in ein Cabrio gesprungen, das gleich darauf in den Wald davonschoß.
    Es bestand natürlich die Möglichkeit, daß ein kleiner Witzbold eine Pille in sein Glas getan oder sich einen ähnlichen Scherz geleistet hatte, um einen Mann mit weißen Haaren auf die Probe zu stellen – so wie man etwa einer Großmutter im Rollstuhl LSD oder einem Haustier STP hätte geben können, aus reiner Bosheit, nur um über einen siebzigjährigen Mann zu lachen, der sich vielleicht inzwischen auf dem Boden wand oder sich in die Hose schiß, warum nicht, hm? Möglich war alles. Evys Kumpel Andreas war durchaus zu so was fähig. Die Liste der Schandtaten dieses Bengels machte einen schwindelig: die Ratten, die er in einem Laden in der Innenstadt ausgesetzt hatte, vermittelten eine vage Vorstellung von seinem Talent – aber es waren auch ein paar Stenze um die Dreißig dagewesen, die nicht besser waren, verbitterte Typen, die vor nichts Respekt hatten.
    Aber zur Not konnte auch der Alkohol allein diesen tiefen Kummer ausgelöst haben, der ihn in einen Jammerlappen verwandelte. Vielleicht pißte man sich mit zunehmendem Alter nicht nur in die Hose, sondern begann auch ohne Grund zu weinen, nur weil das Dasein so absurd war.
    Er schluchzte leise eine gute Minute lang, ehe er sich beruhigte.
    Jetzt waren seine Augen verquollen, und da er keine Taschentücher mehr hatte, wischte er sie sich ein letztes Mal mit dem Ärmel seines Schlafanzugs ab, der bis zum Hals zugeknöpft war.
    Die Eule, die in der Zeder nistete, gab einen leisen Schrei von sich. Er spülte sich den Mund aus und dachte dabei an die Hunderte von Patienten, die vierzig Jahre lang das Parkett in seiner Praxis mit ihren Tränen begossen hatten, aber das war auch nur ein schwacher Trost.
    Ein Geräusch veranlaßte ihn jedoch, auf den Flur hinauszugehen. Er glaubte zunächst, daß die jungen Leute noch nicht schliefen und in ihrem Refugium wer weiß was trieben – besser, man wußte nicht, was –, aber nachdem er eine Sekunde die Ohren gespitzt hatte, stellte sich heraus, daß das besagte Geräusch aus Laures Zimmer kam, am anderen Ende des Flurs.
    Es hörte sich an wie das Grunzen eines recht großen Tieres, ein tiefes, düsteres und beunruhigendes Knurren, begleitet von dumpfen Schlägen, als schlüge jemand mit filzbezogenen Hämmern auf eine Glocke – eher ein Bum! Bum! als ein Bing! Bing!.
    Er entdeckte bald, daß dieses Geräusch durch den Absatz seiner Schwiegertochter verursacht wurde, der krampfartig gegen den Rand der Badewanne schlug.
    Laure war nicht darin – in der Badewanne –, sondern lag lang ausgestreckt auf dem Fußboden aus mit Goldpailletten übersätem Epoxidharz, der anscheinend von einer schleimigen, eiweißähnlichen Masse bedeckt war. Bum! Bum! Ihr rechtes Bein bewegte sich hin und her und schlug wie ein Hilferuf gegen die Wanne, während der Rest des Körpers – nur leicht bekleidet mit einem, sagen wir, kurzen Unterrock, der auf dramatische Weise geschürzt war und ihr am Bauch klebte – anscheinend das Bewußtsein verloren hatte und in dem Erbrochenen patschte.
    »Laure? Geht’s Ihnen nicht gut?«
    Jetzt mußte er aufpassen, daß er nicht selbst im Auswurf von Gallenflüssigkeit dieser unglücklichen Frau ausrutschte – aber puh!, der säuerliche

Weitere Kostenlose Bücher