Die Frühreifen (German Edition)
zu vergessen, sondern wenigstens nicht mehr anzuschneiden – in der Hoffnung, daß die Zeit ihr Werk verrichten möge.
Richard hatte ihn zwar vor die Tür gesetzt, aber das Unheil war angerichtet. Der Zweifel würde fortbestehen, in den Bäumen glitzern, sich verbreiten wie Feuer im Stroh und die Luft auf die eine oder andere Weise verpesten. War er in irgendeiner Weise an Lisas Tod schuld? Er stellte sich die Frage. Wegen Dany Clarence mußte er sich wieder den Kopf zerbrechen und nach Bildern suchen, die aus seinem Gedächtnis verschwunden waren. War er für Lisas Tod verantwortlich? Wer konnte das schon sagen? Bestimmt nicht Dany, dieser alte Arsch, das stand fest.
Aber was war nur in ihn gefahren, fragte man sich. Was hatte Evy ihm bloß angetan, daß er so eine Behandlung, so eine verbitterte Reaktion verdiente?
Niemand aus Evys Umgebung wußte etwas darauf zu sagen. Selbst Anaïs, die sich damit großtat, sein Vertrauen zu besitzen, hatte keine klare Antwort von ihm darauf erhalten können – Dany behauptete, der Alkohol sei an allem schuld, er vertrage nicht mehr viel, aber das war ein bißchen zu billig.
»Das Vertrauen eines vierzigjährigen Typen?« sagte Andreas mit einem höhnischen Lachen. »Weißt du überhaupt, was du da sagst? Scheiße! Bist du eigentlich so naiv, oder ist das reine Dummheit?«
Anaïs antwortete nicht, weil sie sich während ihrer Bewährungszeit, die sie schon so lange schmerzhaft erwartet und so teuer erkauft hatte, nicht aufspielen wollte. Sie gab Evy den Joint, der ihn gleich an Michèle weiterreichte, ohne daran zu ziehen – er bekäme inzwischen von dem Kraut Herzklopfen, erklärte er, was Andreas, der nur das Ziel verfolgte, seinen Freund von seiner fixen Idee abzubringen, zur Verzweiflung brachte.
Es wurde allmählich dunkel, der Wind war kühl. Von der Plattform, die im raschelnden Laub knarrte, konnten sie einen durchaus ansehnlichen Sonnenuntergang bewundern, aber keiner von ihnen interessierte sich wirklich dafür. Sie betrachteten die spiegelnde Oberfläche des Sees in der Ferne, die Silhouette des Bootshauses, dessen geteertes Dach von der Größe einer Briefmarke von einer weißen Rauchfahne geschmückt wurde, die im Wind zerstob – und die Anwesenheit von Dany Clarence signalisierte.
Vermutlich war Richard schon reif für den Absprung gewesen, vermutlich hatte ihm nur noch dieser letzte Stoß gefehlt, um sich aus dem Staub zu machen, gut möglich, aber trotzdem. Trotzdem war Dany für das Problem Nummer eins bei den Trendels verantwortlich – und sich vorzustellen, daß er friedlich vor dem Kamin saß, in aller Seelenruhe eine Zigarette rauchte und ungestört an seinen Kanus und Booten bastelte, nachdem er das Pulverfaß zum Explodieren gebracht hatte, war hart.
Man brauchte Evy nur zwei Sekunden lang zu beobachten, um festzustellen, wie hart das war. Seine hohlen Wangen, seine bleiche Gesichtsfarbe, sein trüber Blick – die durch Exzesse anderer Art nicht gerade aufgefrischt wurden – ließen erkennen, wie hart die Schicksalsprüfung war. Das brachte Anaïs ganz durcheinander. Evys Ähnlichkeit mit Lisa war größer denn je. Anaïs mußte sich zurückhalten, ihren Mutterinstinkt zügeln, wenn sie sah, wie Evy regungslos in der Dämmerung saß und von Qualen verzehrt den Horizont musterte, sie mußte darauf verzichten, ihm die Hand zu reichen, wenn sie nicht wollte, daß sie selbst gequält wurde.
Im übrigen hatte sie inzwischen akzeptiert, daß Evy sich an nichts erinnerte – auch da genügte es, ihn zwei Sekunden lang zu beobachten, um sich davon zu überzeugen, daß er unschuldig war – und daß von Danys Anschuldigungen ein übler Gestank ausging. Dieser Idiot hatte bestimmt nichts gesehen, oder er war völlig besoffen gewesen, oder er hatte unter der Einwirkung einer Handvoll Pilze gestanden, das war die ganze Wahrheit – außerdem war die Sicht in jener Nacht nicht sehr gut gewesen, Anaïs erinnerte sich, daß auf der Straße, die durch den Wald führte, Nebelfetzen gelegen hatten.
Wenigstens, sagte sie sich, lag Evy jetzt kein Mädchen mehr ständig auf der Pelle, und mehr verlangte sie gar nicht: Gaby hatte dadurch, daß sie mit Richard Trendel vögelte, verdammt gute Arbeit geleistet – so konnte man das doch sagen.
Inzwischen benutzte Anaïs die Tupperwaredose mit Lisas Sachen, um darin ihr Dope zu verstecken, und alle schätzten diese Geste, alle gaben zu, daß das ein toller Beweis ihres guten Willens war und eine gewisse Achtung
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