Die Frühreifen (German Edition)
reingewaschenen Himmels auf und lud zu einem Spaziergang ein.
Richard wandte sich sofort an das arme Mädchen: »Na, Anaïs, über dich hört man ja reizende Dinge. Man hat mir erzählt, du seist mit einem Vorschlaghammer über Patricks Grab hergefallen. Mit einem Vorschlaghammer, Anaïs? Du hast wohl den Verstand verloren, was?«
Während er auf die Antwort wartete, zündete er sich eine seiner englischen Zigaretten an und bot sie den anderen an. Anaïs nahm sich eine. Alexandra lehnte ab. Sie ließ ihre Hand über die Stereoanlage gleiten, die aufleuchtete, das CD -Laufwerk herausfahren ließ, und legte die Smiths auf.
»Es tut mir leid, daß ich das getan habe. Aber so sehr auch wieder nicht«, erklärte Anaïs.
Richard bedankte sich bei Alexandra mit einem kurzen Seitenblick, denn Meat is murder war einer seiner Lieblingssongs, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder der Jugendlichen zu, die in ihrem Sweater mit Kapuze eine Boxerfigur hatte, und sagte zu ihr: »Also, Anaïs, wir sind da, wir sind ganz Ohr und würden gern wissen, was du uns Interessantes zu sagen hast. Wir würden gern wissen, was ihr in euerm Schädel habt, du und deinesgleichen.«
Sie schob die Schultern nach vorn, zog kurz die Nase hoch und sagte dann, sie habe sich den Mondschein zunutze gemacht. Sie erzählte, der Anblick gewisser Fotos habe sie geradezu verrückt gemacht und in ihr eine furchtbare Wut auf Patrick aufkommen lassen, einen nicht zu unterdrückenden Drang, sich an ihm zu rächen, wo immer er auch sei, und deshalb habe sie sein Grab zerstören, es kurz und klein schlagen wollen. Und sie habe, während sie es zertrümmerte, eine unbändige Freude empfunden.
»Du kannst ganz beruhigt sein. Ich schicke deinem Vater die Rechnung«, versprach Alexandra.
Ernüchtert und etwas fahrig stellte sich Richard vor, wie Anaïs diese Tat im Mondschein in seiner ganzen Schönheit beging, wie sie gestikulierend und zeternd auf Patrick Storers Grabstein hockte und mit einem Vorschlaghammer auf ihn einschlug – KLING ! BLANG ! BING ! – und ihrer Wut dabei freien Lauf ließ. Wirklich verblüffend. Aber er hatte schon immer den Eindruck gehabt, daß sie eine Meise hatte.
Auf jeden Fall war sie nach Hause zurückgefahren und hatte fürchterliche Magenkrämpfe bekommen. Sie war den ganzen Vormittag zusammengerollt im Bett liegengeblieben und hatte sich nicht einmal um ihren kleinen Bruder kümmern können, der mit Schaum vor den Lippen durchs ganze Haus rannte.
Richard sagte seufzend: »Du erwartest ja wohl kein Mitleid von uns, Anaïs. Das wäre ein bißchen zuviel verlangt.«
Sie senkte den Blick. Sie machten sich vielleicht über ihre Gefühle lustig, dabei ließ sich nicht leugnen, daß sie im Mittelpunkt einer Geschichte stand oder zumindest eine von deren Schlüsselfiguren war, die mehr als einen in dieser Umgebung betraf – einer Geschichte, deren Drahtzieher sie war und deren Ende, wenn sie sich nicht täuschte, noch nicht feststand. Sie schätzte diese Leute und haßte sie zugleich. Sie schätzte ihre Gesellschaft, ging gern zu ihnen nach Hause, war gern mit ihnen zusammen, aber gleichzeitig fühlte sie sich dabei unbehaglich.
Angesichts des Schweigens dieses dicken Mädchens, das das Sofa verformte – während eine Milliarde von fettleibigen Menschen durch die Welt zog, Möbel zusammenbrechen ließ, Flugzeuge vollstopfte, Boote zum Kentern brachte und doppelt soviel Luft einatmete wie die anderen –, wechselten Richard und Alexandra einen ratlosen Blick.
»Und diese Fotos, Anaïs, hm, diese verflixten Fotos. Können wir sie sehen? Zeigst du sie uns?«
Er unterdrückte ein Gähnen. Ehrlich gesagt war es wirklich nicht einfach, sich für das Tun und Treiben dieser Blagen zu interessieren, es war nicht einfach, ihrer kleinen Welt und ihrem unglaublichen Durcheinander große Aufmerksamkeit zu schenken. Wenn es sich nicht um Fotos handelte, dann ging es um etwas anderes, irgendeinen Mist, der ihnen gerade durch den Kopf ging oder in die Hände fiel. Manchmal schütteten sie sich eine Schaufel voll Glasscherben in die Hose. Oder sie fielen von Bäumen. Oder sie stürzten sich von einer Brücke. Oder sie ertranken. Oder sie verwüsteten Gräber. Ihre Phantasie kannte keine Grenzen, keine Schranken. Und trotzdem mußte man damit klarkommen, sagte sich Richard und nahm Anaïs gegenüber, der er geduldig die Hand entgegenstreckte, die ermunternde, wenn nicht gar freundliche und verständige Haltung ein, die erforderlich war.
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