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Die Frühreifen (German Edition)

Die Frühreifen (German Edition)

Titel: Die Frühreifen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Djian
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alte Knacker war unberechenbar. Er konnte schon am frühen Morgen eine Moralpredigt halten, ein Urteil darüber abgeben, was für einen Lebenswandel die anderen führten, und Rezepte vorschlagen, erprobte Rezepte, die er selbst erfunden hatte, Heilmittel jeder Art und gute Ratschläge, wie man mit diesem und jenem umzugehen hatte.
    »Was meinst du dazu, oder willst du mir nicht sagen, was du denkst?«
    »Wie war noch mal die Frage?«
    André konnte wieder einmal feststellen, daß der Junge ohne jeden Zweifel eine große Vorliebe dafür hatte, Dinge zu verheimlichen. Eine Vorliebe, die übrigens nicht neu war. Sie ging nicht einmal auf den Tag zurück, an dem seine Schwester gestorben war, sondern war viel älter, reichte bis in junge Jahre zurück. Das war äußerst unangenehm. Aber konnte man ihm das übelnehmen? Richard und Laure waren von jeher unfähig gewesen, ihre Kinder zu erziehen, und waren mit schlechtem Beispiel vorangegangen, hatten, gequält von ihrer Ichbezogenheit, ihr Leben so aufgebaut, daß sich der gesunde Menschenverstand geradezu sträuben mußte. Wie sollte man einem Jungen, der mitten in der Pubertät steckte, zum Vorwurf machen, daß er verschlossen war, wenn er solche Eltern besaß? Der arme Kerl. Man mußte schon froh sein, daß er nicht außerdem noch Ausschlag oder nervöse Zuckungen bekommen hatte.
    Im letzten Winter hatte André auch nicht mehr als die anderen aus seinem Enkel herausbekommen können. Die Befragungen waren mehrere Tage lang fortgesetzt, dieselben Fragen mindestens hundertmal gestellt worden, und anschließend hörte man das Knistern des Feuers im Kamin, aber nicht Evy, oder höchstens mal drei Worte, wenn er in die Ecke gedrängt worden war, das absolute Mindestmaß, es sei ein Unfall gewesen, mehr lasse sich nicht darüber sagen, sie sei ins Wasser gefallen und ertrunken, sie sei in dem eisigen Wasser weggesackt, ehe er auch nur einen Finger rühren konnte, das sei alles.
    André war der Ansicht, daß unter manchen Umständen ein paar richtig plazierte, laut schallende Backpfeifen eine ausgezeichnete Wirkung erzielten, aber Richard und Laure waren viel zu unentschlossen, viel zu sehr gelähmt von ihren erbärmlichen progressiven Ideen, um sich so eines Mittels zu bedienen – sie zogen es vor, ihre Ungeduld zu verbergen und sich mit der Ungewißheit abzufinden, anstatt auf die guten alten Methoden zurückzugreifen. Deshalb waren sie verachtenswert. Deshalb waren sie André zufolge jämmerlich, deshalb verdienten sie die schwere Prüfung, die sie durchmachten.
    Er richtete den Blick auf Evys Arm, der von einer großen Wespe gestochen worden zu sein schien, dann rieb er sich das Kinn.
    »Dieses Mädchen nimmt Drogen«, sagte er. »Das weißt du doch, oder? Natürlich. Du bist ja nicht blind. Ich brauche dir also keine Ratschläge zu erteilen. Aber auf jeden Fall kann sie nicht einfach so in diesem Haus herumlaufen. Ich glaube, es ist nicht nötig, daß ich dir erkläre, warum. Ich habe deinem Vater neulich gesagt, wie sehr ich dich schätze, und das war ehrlich gemeint. Aber dieses Mädchen kann nicht so in diesem Haus herumlaufen, wie es ihr gerade paßt, verstehst du? Das ist für alle nicht gut.«
    Genau in diesem Augenblick tauchte Richard wie ein Springteufel mit schmerzhaft bekümmerter Miene hinter einem Ginsterbusch auf und schaltete sich in die Unterhaltung ein: »Papa, was erzählst du da für einen Scheiß! Sag mal, was geht dich das eigentlich an? Hm, was geht dich das an?«
    »Ich sorge mich um euch«, erwiderte sein Vater. »Ich erwarte keinen Dank dafür, o nein. Mach nicht so ein erschrockenes Gesicht. Ich bemühe mich, euch weitere Schicksalsschläge zu ersparen. Ich finde, die habt ihr nicht nötig, oder irre ich mich da? Glaubst du wirklich, daß du allein damit fertig wirst?«
    »Jetzt hab dich mal nicht so. Niemand hat dich beauftragt, eine Liste von den Leuten zu führen, die hier ein- und ausgehen. Wenn es ein Problem gibt, dann komm zu mir und erzähl mir davon. Aber ich wüßte nicht, was für ein Problem es geben könnte. Was für ein Problem dich angehen könnte.«
    »Okay. Ich habe bei manchen Gelegenheiten gegen deinen Willen handeln müssen. Ich kann verstehen, daß dir das nicht paßt. Das ist normal. Aber was mich angeht, so habe ich mich nie meiner väterlichen Pflicht entzogen. Selbst wenn mir das nur Bitterkeit eingebracht hat. Weißt du, mit siebzig Jahren läßt man sich nicht mehr so leicht beeindrucken. Da mußt du dir schon was

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