Die Frühreifen (German Edition)
möchte ihm gern ein paar Fragen stellen. Das ist alles. Dieser Typ ist vielleicht beknackt, aber bestimmt nicht so sehr, daß er alle Schüler von Brillantmont einzeln befragen möchte. Das ist alles. Die Schlußfolgerungen überlasse ich daher dir.«
Sie warf nervös einen Blick auf ihre Armbanduhr.
»Ich habe noch zwei oder drei Stunden hier zu tun. Hör zu, versprich mir, daß du ihn in Ruhe läßt. Ich bitte dich darum. Laß mich mit ihm sprechen.«
» Ihn in Ruhe lassen? Das sagst du mir? Habe ich richtig gehört?«
Er brauchte nicht hinzuzufügen, daß nicht er Evy an der Gurgel gepackt oder ihn wie einen Pflaumenbaum geschüttelt und ihm dabei ins Gesicht geschrien hatte. Wie oft hatte er sie zur Vernunft gebracht, sich zwischen die beiden gestellt, damit sie den Jungen in Ruhe ließ, der bestimmt auch litt, selbst wenn er es nicht direkt zeigte, wie oft hatte Richard geschrien: » HALT ! DAS REICHT ! HALT! « und manchmal noch hinzugefügt: » UM HIMMELS WILLEN !«
»Hör zu«, sagte sie nach einer Pause, »ich hab jetzt eine verdammt schwierige Szene zu spielen. Ich kann nicht länger mit dir über diese Sache sprechen. Ich muß mich jetzt konzentrieren, wie du dir sicher vorstellen kannst. Tu einfach das, worum ich dich gebeten habe. Bitte! Weißt du, ich mache das hier nicht zum Spaß.«
»Pah, sich die Brüste befummeln zu lassen kann so unangenehm doch nicht sein, oder? Und man braucht keine Ausbildung im Actor’s Studio, um knallrote Wangen zu bekommen.«
Ohne Vorwarnung schlug ihm Anaïs mit voller Wucht die rechte Faust in den Magen. Evy öffnete den Mund, dann fiel er auf die Knie, während sie mit in die Hüften gestemmten Fäusten um ihn herumging. Sie schien außer sich zu sein.
Das Wasser war ein bißchen zu kühl geworden, um darin zu baden. Innerhalb weniger Tage hatte es kostbare Grade verloren. Aber das Ufer des Sees – nicht Lisas See, sondern der andere – blieb ein geeigneter Ort, ruhig genug, um einen Streit auszutragen, ohne sich zur Schau zu stellen.
Evy verfärbte sich allmählich violett.
Anaïs ging zweimal tobend und mit knirschenden Zähnen um ihr Opfer herum, ehe sie Evy am Kragen packte und ihn ins Wasser schleifte. Aber war das das richtige Heilmittel für ihn?
Als die Luft mit lautem Röcheln und dumpfem Gurgeln wieder in die Lunge des Jungen eindrang, zog sie ihn nach hinten und ließ ihn auf die Kieselsteine fallen.
»Gleich kriegst du eine Abreibung, an die du dich noch lange erinnern wirst«, zischte sie zwischen den Zähnen. »Ich reiß dich in Fetzen.«
Sie schien Mühe zu haben, sich zurückzuhalten. Evy wurde sich unterdessen bewußt, daß er einen Stein von der Größe einer Melone in der Hand hielt. Es war noch nicht spät, der Nachmittag hatte eben erst begonnen, aber man spürte, daß die Sonne nicht mehr so warm war und die Kälte mit einem Schlag einsetzen würde, auch wenn die Sonne jetzt noch funkelte und auf der Oberfläche des Sees explodierte wie ein Konzert von Elektroschweißern.
»Wenn du Zoff suchst, kannst du ihn haben!«
Sie ging um ihn herum, ohne sich zu entschließen. Ein Nervenbündel von zwei Zentnern und total in Rage. Eingeschnürt in ihre unvermeidlichen Fransenshorts und an den Füßen gräßliche Turnschuhe aus gelbem Leinen.
Evy sammelte seine Kräfte und schleuderte ihr den Stein ins Gesicht, aber sie wich ihm ohne Mühe aus.
»Du bist ein bißchen zu kurz geraten, um den Schlaumeier zu spielen«, gluckste sie. »Wenn du das noch mal tust, kriegst du eins auf die Nase.«
Niemand hätte das für einen Scherz gehalten. Hinzu kam, daß er sich noch etwas schwach fühlte, doch selbst unter normalen Umständen konnte er ihr gegenüber nur den kürzeren ziehen. Sie wog doppelt soviel wie er, war gemein und schnell. Er hätte sie schon überraschen müssen, möglichst von hinten und am besten mit einem Bleirohr.
Schließlich gelang es ihm, sich hinzusetzen. In gewisser Weise war er glücklich.
»Ich schwanke noch, ob ich dich den Bullen ausliefern oder dir selbst eine Abreibung verpassen soll«, sagte sie mit einer Grimasse. »Was wäre dir lieber?«
Am gegenüberliegenden Ufer befanden sich einige Paare, die heftig flirteten und sich für die Streitigkeiten, die in ihrer Nähe ausbrechen konnten, ebensowenig interessierten wie für den Gesang der Grasmücken oder den eines Kuckucks. Anaïs zündete sich eine Zigarette an.
»Aber ich gebe zu, das war tollkühn«, erklärte sie und blies Evy dabei den Rauch ins Gesicht.
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