Die fünf Leben der Daisy West
ich den Gedanken überhaupt in Erwägung gezogen habe.
Um nicht in Versuchung zu kommen, meine Meinung wieder zu ändern und doch noch etwas zu verraten, beende ich unser Schweigen. »Erzähl mir von Audreys Krankheit«, bitte ich ihn behutsam. »Wie hat Audrey von ihrem Krebs erfahren?«
Bis Matt antwortet, vergeht ein Moment.
»Bist du sicher, dass du die Einzelheiten wissen willst?«, fragt er schließlich.
»Ja, ich bin mir sicher.«
»Gut«, antwortet er. Ich sehe, wie er sich mit dem Daumen die Haare aus den Augen streicht und die Musik leiser stellt.
»Vor zwei Jahren haben wir mit unseren Eltern ein langes Wochenende an den Seen von Fremont verbracht«, beginnt er. »Wir haben extra scharfe Tacos gegessen und Audrey bekam Bauchschmerzen. Dann musste sie sich übergeben und konnte kaum noch stehen. Mom und Dad sind total ausgeflippt. Sie dachten, sie hätteeine schlimme Lebensmittelvergiftung oder so etwas. Dad hat sie sofort ins Krankenhaus gefahren, wo sie untersucht wurde, und es hat sich herausgestellt, dass auf jeden Fall nicht die Tacos an den Bauchschmerzen schuld waren. Der Arzt dachte, sie hätte vielleicht ein Loch im Magen oder im Darm. Er wollte sofort operieren, um es zu schließen.«
Ich schaue Matt von der Seite an und bemerke, wie sich sein Kiefermuskel bewegt. Er weint nicht, aber der Schmerz in seinen Augen ist nicht zu übersehen. Ich lege meine Hand auf seine, um ihn zu ermutigen fortzufahren, was er auch tut.
»Während Audrey im OP war, sind auch meine Mutter und ich zu meinem Vater ins Krankenhaus gefahren. Anschließend bat der Arzt meine Eltern in sein Büro. Ich blieb so lange im Wartezimmer. Als sie wieder herauskamen, weinte meine Mutter und konnte gar nicht aufhören. Es war ...« Ihm versagt die Stimme, dann holt er tief Luft, um seine Erzählung zu beenden: »Mein Vater hat mir dann gesagt, dass sie in Audreys Magen und Leber Tumore gefunden haben.«
»Oh Gott«, sage ich und lege die Hand vor den Mund.
»Ich weiß«, sagte er. »Es war grausam.«
Ich schweige und Matt fährt fort: »Audrey war dann für fünf oder sechs Tage im Krankenhaus. Am Anfang wurde sie sogar künstlich beatmet. Es war total unheimlich, weil sie sich zuerst gar nicht erinnern konnte, wie sie dorthin gekommen ist.«
»Wie ich gestern Nacht«, sage ich und bereue es sofort. Matt lacht dennoch ein wenig.
»Kann man so sagen«, antwortet er. »Jedenfalls ist sie immer wieder weggedriftet und war, wenn sie aufwachte, vollkommen verwirrt. Immer wieder mussten wir ihr die Geschichte erzählen. Irgendwann blieb es dann doch in ihrem Kopf. Als sie das nächste Mal aufwachte, erinnerte sie sich selbst und hat nur noch geweint. Es war fürchterlich.«
»Unvorstellbar«, sage ich und ärgere mich sofort darüber, wie oberflächlich es klingt.
»Schließlich ging es ihr gut genug, um aus dem Krankenhaus entlassen zu werden. Zu Hause ist sie bei mehreren Ärzten gewesen, die ihr verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt haben.« Matt schnaubt.
»Aha?«
»Ärzte halt«, fährt er bitter fort. »Man bekommt keine klare Antwort. Nur Meinungen. Und einige dieser Meinungen sind totaler Müll.«
Ich denke an den einzigen Arzt, den ich kenne: Mason. Er hat zwar Medizin studiert, aber seine praktische Weiterbildung ganz anders absolviert als die meisten – als Teil eines geheimen Teams unter der Schirmherrschaft der Behörde, die für die Lebensmittelüberwachung und Arzneimittelzulassung zuständig ist. Ich schüttele den Gedanken an Mason ab und frage nach dem einzigen Weg, den ich zur Krebsbehandlung kenne: »Was ist mit Chemo?«
»Fehlanzeige. Bei ihrer Art von Krebs wirkt sie anscheinend nicht«, entgegnet Matt. »Ihre Behandlung besteht im Großen und Ganzen darin, dass sie irgendein neues Medikament bekommt und man dann abwartet, was passiert. Alles Scheiße.«
Ich fühle mich daran erinnert, wie das Programm die Sache mit Nora angeht. Unentschlossen und anscheinend ohne richtigen Plan.
»Kann man denn sonst nichts tun?«, frage ich und spüre bereits den Zorn auf Audreys Ärzte in mir aufsteigen. »Operieren zum Beispiel?«
»Angeblich sind in ihrer Leber zu viele kleine Tumore, sodass es unmöglich ist, sie zu entfernen«, erklärt Matt leise.
»Und was ist mit einer Transplantation?«, erkundige ich mich.
Matt sieht mich traurig an. »Krebspatienten erhalten keine gesunde Leber.«
Ich komme mir naiv vor und bin froh, als Matt den Blick wieder auf die Straße richtet.
»Wie viel Zeit bleibt ihr
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