Die fünf Leben der Daisy West
Fingerspitzen. Ich bin selbst von meinem Mut überrascht, ziehe sie aber nicht zurück. Matt wendet den Kopf ab, seine Hand zieht er jedoch ebenfalls nicht zurück.
»Ich soll es dir eigentlich nicht sagen«, antwortet er tonlos.
»Was sollst du mir nicht sagen?«, frage ich ungeduldig. »Ich hasse Geheimnisse. Ich ...«
Und dann sagt er es doch.
»Audrey hat Krebs.«
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
13
Um fünfzehn Uhr haben wir bereits mehr als die halbe Strecke nach Omaha zurückgelegt. Mason habe ich eine Notiz unter der Tür zu seinem Zimmer hindurchgeschoben.
Matt und ich schweigen seit geraumer Zeit, doch es ist eine angenehme Stille. Ich habe nicht das Gefühl, mühevoll nach einem Gesprächsthema suchen zu müssen. Ich weiß nicht, wann genau, aber irgendwann zwischen dem Moment, als ich mit ihm in meinem Bett aufgewacht bin, und dieser Fahrt, ist meine Nervosität Matt gegenüber verschwunden. Wenn ich mit ihm zusammen bin, ist es nicht so selbstverständlich wie mit Audrey oder Megan, aber es ist viel leichter geworden, mit ihm zu reden. Und nicht mit ihm zu reden eben auch. Natürlich bin ich angespannt, aber meine Knie zittern nicht mehr und mein Atem geht gleichmäßig. Trotz der Gedanken, die mich umtreiben, wirkt Matts Anwesenheit beruhigend auf mich.
Während wir fahren, erinnert mich das Geräusch der Reifen auf dem rauen Asphalt an einen Reißverschluss, den man schnell immer wieder auf- und zumacht. Der seltsame Rhythmus versetzt mich in eine Art Trancezustand, in dem ich nichts als meinen inneren Dialog wahrnehme.
Audrey stirbt.
Sie stirbt wirklich.
Ich bin abgehauen, ohne Mason Bescheid zu sagen.
Ich will Audrey helfen,
aber ich kann nichts tun.
Ja ... alles macht Sinn. Das Sich-Übergeben. Dass ihre Mutter sie tun lässt, was sie will. Die traurigen Blicke in der Schule.
Ist es Krebs im Endstadium?
Wahrscheinlich schon. Ja, Matts Gesicht besagt alles.
Ich bekomme Ärger.
Egal, im Vergleich zu dem, was Audrey durchmacht, ist es nichts.
Ich habe noch nie Ärger bekommen.
Hör auf, so kindisch zu sein. Audrey STIRBT!
Ja, aber ...
Stopp, ich habe ein verzerrtes Verhältnis zum Tod.
Und schließlich:
Ich möchte Matt von Revive erzählen.
Der letzte Gedanke erschreckt mich. Hörbar ziehe ich die Luft ein, auch wenn Matt es wegen des Fahrgeräusches nicht mitbekommt. Noch nie habe ich es gewagt, überhaupt daran zu denken, irgendjemandem von dem Programm zu erzählen. Und doch wäre es so einfach, jetzt den Mund zu öffnen und es zu tun. Ich könnte ihm sagen, dass mein Verhältnis zum Tod nicht ganz normal ist. Ich könnte erklären, dass ich mit einer Art Schutzanzug durchs Leben gehe – weil ich Teil eines Programms bin, bei dem der Tod zu etwas Widerrufbarem wird. Dass es mir ein Selbstvertrauen gibt, das andere nicht haben. Als ich jünger war und schwimmen gelernt habe, war ich zum Bespiel die Einzige, die nicht brüllend am Beckenrand hing, denn ich hatte keine Angst vor dem Ertrinken. Zwar wollte ich nicht ertrinken – nicht zuletzt, weil ich wusste, wie es sich anfühlt – aber es hatte für mich nichts Endgültiges.
Nicht sterben zu wollen, ist etwas anderes, als deshalb vor Angst gelähmt zu sein.
Ich könnte Matt davon berichten, mit welchem Widerspruch ich gerade zu kämpfen habe, dass ich nicht fassen kann, dass meine einzige Freundin, die nicht Teil des Programms ist, Krebs hat. Dass ich sie instinktiv retten möchte, aber gleichzeitig weiß, dass es sinnlos ist, selbst wenn Mason sich dazu bereit erklären würde, jemandenwiederzubeleben, der nicht Teil des Programms ist. Revive funktioniert weder bei Erwachsenen noch bei Schussopfern oder Krebspatienten. Doch vielleicht ...
Bei dem Gedanken, mein Geheimnis mit ihm teilen zu können, zieht sich mein Magen zusammen. Mein Mund wird trocken, als ich versuche, die richtigen Worte zu finden. Matt und ich sind ganz allein und haben noch viele Kilometer vor uns. Ich mag ihn und ich glaube, er mag mich auch. Ich könnte es wagen. Ich bekomme Herzrasen, als ich es ernstlich erwäge ...
ZISCH!
Plötzlich haben wir frischen, glatten Asphalt unter den Reifen und irgendwie fällt es mir ohne diese Geräuschkulisse schwerer, mein Gewissen auszublenden, das sich nun lautstark meldet. Es sagt mir nicht nur, dass es falsch ist, das Programm offenzulegen, sondern auch dumm. Ich kenne Matt kaum: Wie kann ich ihm dann eine derartig große Sache anvertrauen?
Kaum zu glauben, dass
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