Die fünf Leben der Daisy West
noch?«, frage ich.
»Die Ärzte haben ihr damals drei Jahre gegeben«, antwortet Matt.»Zweieinhalb sind bereits um. Eine Weile ging es ganz gut, doch jetzt sind die Schmerzen stärker geworden und sie muss immer wieder ins Krankenhaus.«
»Ist sie im Moment auch dort?«, flüstere ich.
»Nicht mehr«, antwortet Matt. »Aber deshalb hat sie sich nicht bei dir gemeldet. Nach dem Kinobesuch am Freitag sah sie nicht besonders gut aus. Meine Eltern sind sofort panisch geworden und in die Notaufnahme gefahren. Dort wurden einige Untersuchungen gemacht, dann wurde sie wieder nach Hause geschickt, wie immer. Aber sie haben ihr Schmerzmittel gegeben, die sie vollkommen außer Gefecht gesetzt haben. Sie hat das ganze Wochenende geschlafen.«
Eine Weile starre ich aus dem Fenster auf die vorbeisausenden Begrenzungspfosten. Der Anblick der Landschaft steigert die Traurigkeit, Wut und Hilflosigkeit nur noch, die ich verspüre. Abermals denke ich an Revive und an seine Grenzen.
Als ich sieben Jahre alt war, hat Mason mir ein Kaninchen geschenkt, als Trost, nachdem ich von einem Baum gefallen war und mir den Arm gebrochen hatte. Ich nannte es Ginger und sorgte gut für das Tier. In meinem Zimmer hatte es einen sehr sauberen Käfig und ich ließ es mehrere Stunden am Tag frei in der Wohnung herumlaufen und manchmal auch draußen in unserem eingezäunten Garten. Nicht dass ich es hätte fragen können, aber ich glaube, dass mein Kaninchen glücklich war.
Doch dann bekam Ginger Krebs.
Zunächst war es nur ein kleiner Knoten, aber zum Schluss berührten die Füße kaum noch den Boden, weil der Tumor, der sich von innen nach außen fraß, so groß war. Wie ein Ballon ohne Beine wackelte Ginger durch die Gegend, was fast komisch aussah, wenn es nicht so traurig gewesen wäre. Und dann ist er gestorben.
Ich habe Mason angefleht, mein Kaninchen zu retten.
»Gib ihm die Medizin«, habe ich geschrien und den Kopf imKissen vergraben, damit ich das tote Kaninchen in dem Käfig neben der Tür nicht sehen musste. Mason setzte sich auf die Bettkante und streichelte mir über den Rücken.
»Ganz ruhig«, sagte er sanft. »Ich weiß, dass du traurig bist. Ich weiß, dass du Ginger geliebt hast. Aber leider kann ich in diesem Fall nichts tun.«
»Warum nicht?«, jammerte ich.
»Weil es bei Kaninchen nicht funktioniert«, erklärte er.
»Woher weißt du das? Hast du es je versucht?«, rief ich. Mason strich meine zerzausten Haare glatt und seufzte.
»Daisy, das Kaninchen hatte Krebs. Weißt du, was das bedeutet?«
»Ja!«
»Nun, es hat sich gezeigt, dass Revive seine Grenzen hat«, sagte Mason, als würde er seinen Vorgesetzten Bericht erstatten und nicht seine Pseudo-Tochter trösten.
»Was heißt das?«, wollte ich wissen, das Gesicht noch immer im Kissen vergraben.
»Das heißt, dass das Medikament nur bei bestimmten Toten wirkt.«
»Nur bei Menschen?«
»Ja, und bei Ratten, aber das meine ich nicht«, antwortete Mason. »Ich meine, dass es nur bei Toten funktioniert, die zuvor gesund gewesen sind. Lebewesen, die plötzlich sterben und nicht durch eine letale Krankheit.«
»Was ist eine letale Krankheit?«, fragte ich und drehte mich nun doch zu Mason um. Ich hörte auf zu weinen, meine Neugier hatte gesiegt. Einen Moment schwieg Mason, wahrscheinlich, um zu überlegen, wie man so etwas einer Siebenjährigen am besten nahebrachte.
»Es gibt sehr schlimme Krankheiten, die sind – «
»Schlimmer als eine Erkältung?«
»Psst, lass mich ausreden«, sagte Mason und berührte meine Hand.»Ja, viel schlimmer als eine Erkältung. Und bei den meisten dieser Krankheiten steckt man sich nicht bei jemand anderem an und sie können auch nicht mit Medikamenten geheilt werden.«
»Bekomme ich auch so eine Krankheit?«, fragte ich und setzte mich auf. »Ich will nicht noch einmal sterben. Das tut weh!«
»Nein«, versprach Mason zuversichtlich. »Du wirst nicht so eine Krankheit bekommen und du wirst auch nicht noch einmal sterben. Aber hör mir zu, Daisy. Ginger hatte Krebs und das ist so eine Krankheit. Sie ist nicht heilbar. Wer an so etwas stirbt, kann mit Revive nicht wiederbelebt werden. Hast du das verstanden?«
Schweigend blickte ich auf den Käfig an der Tür, in dem das reglose Kaninchen lag.
»Ginger hatte ein schönes Leben, Daisy. Vielleicht hilft dir das ein wenig.«
»Tut es nicht«, antwortete ich ehrlich.
Mason lächelte mich müde an. »Eines Tages bestimmt«, sagte er, bevor er mit dem toten Kaninchen auf dem
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