Die fünf Leben der Daisy West
Arm mein Zimmer verließ.
Matt und ich halten an einer Tankstelle knapp 50 Kilometer vor Omaha. Matt tankt und bezahlt direkt an der Säule mit seiner Karte. Dann geht er noch in den Laden, um etwas zu essen zu besorgen. Aus dem Auto beobachte ich, wie er die Regale mit den Süßigkeiten mustert. Er hält eine Packung rote Lakritzstangen hoch und ich schüttele den Kopf. Er winkt mit Schokolade und ich verziehe das Gesicht. Schließlich zeigt er mir eine Tüte Chips und ich hebe den Daumen. Dazu forme ich mit den Lippen die Worte »mit Cola«, was er aber nicht versteht. Deshalb schreibe ich ihm eine SMS. Als er sie liest und sich unsere Blicke treffen, müssen wir beide lachen. Wir halten uns an etwas so Bedeutungslosem wie dem Simsen über Süßigkeiten fest, da das, was wirklich Bedeutung hat, uns zu überwältigen droht.
Gegen 17 Uhr fahren wir wieder auf den Highway. Als ich gerade die Chipstüte öffne, klingelt mein Handy. Obwohl ich mir sicher bin, dass Mason mit Wade noch nicht fertig ist, weiß ich, dass er am Telefon ist, um sich zu erkundigen, wie es mir geht. Ich kann nicht mit ihm sprechen. Ich will ihn nicht anlügen und wenn ich die Wahrheit sage, wird er versuchen, mich zurückzuholen.
»Du solltest deinen Eltern sagen, wo du bist«, sagt Matt, als könnte er Gedanken lesen.
Ich schüttle den Kopf. »Sie werden es schon herausfinden, ich habe ihnen eine Nachricht hinterlassen.«
»Ja, aber du solltest sie beruhigen, dass mit dir alles in Ordnung ist. Eltern machen sich sonst Sorgen.«
»Ach ja? Was glauben denn deine Eltern, wo du im Moment bist?«
Matt sieht mich kurz an und richtet den Blick dann wieder auf die Straße. »Bei dir«, antwortet er ohne Umschweife. »Sie vertrauen mir.«
»Wie schön für dich«, antworte ich und höre Matt verstohlen lachen. »Hast du einfach zu ihnen gesagt, ›Hört mal, liebe Eltern, ich weiß, dass Audrey krank ist, aber ich fahre jetzt los, um die betrunkene Daisy aus ihrer misslichen Lage zu befreien‹?«
»So in der Art«, bestätigt Matt mit einem breiten Lächeln, was ich angesichts der Sache mit Audrey und wie sehr er darunter leidet, als besonders wertvoll empfinde.
»Was genau hast du ihnen gesagt?«, hake ich nach und mustere ihn von der Seite. Die untergehende Sonne bringt sein Gesicht zum Leuchten und lässt alles andere verschwimmen, als würde ich ihn durch einen dieser Filter sehen, mit denen man Bilder auf alt trimmen kann. Ich bewundere seine dichten, dunklen Wimpern und die gerade Nase und kann kaum der Versuchung widerstehen, die Narbe an seinem perfekt geformten Kinn zu berühren.
»Ich habe gesagt, du seist ein Kleinstadtmädchen, das in der Großstadt unter die Räder gekommen ist«, antwortet Matt und holt mich ins wahre Leben zurück. »Ich habe gesagt, du hättest Angst und bräuchtest Hilfe und deshalb würde ich zu dir fahren.«
»Das ist alles?«
»Das ist alles.«
»Waren sie nicht sauer, dass du wegen Audrey nicht zu Hause geblieben bist?«, frage ich.
»Sie verstehen es«, erwidert Matt ernst. »Ich kann dort nichts tun, als sie anzustarren. Das macht Audrey wiederum wahnsinnig und sie hat uns alle gebeten, sie allein zu lassen.«
»Ich kann noch immer nicht glauben, dass sie mir nichts von ihrer Krankheit erzählt hat«, sage ich. »So etwas Bedeutendes hält man doch nicht vor seinen Freunden geheim.« Der Ironie meiner Worte bin ich mir nur allzu bewusst.
Wieder lächelt Matt sein unwiderstehliches Lächeln.
»Das darfst du so nicht sehen, Daisy. Das ist keine spannende Neuigkeit, an der sie dich nicht teilhaben lassen wollte. Sie hat die Erfahrung gemacht, dass ihre alten Freunde völlig ausgerastet sind und sich von ihr abgewendet haben, nachdem sie davon erfahren hatten.«
»Das ist ja total übel«, sage ich kopfschüttelnd.
»Nicht alle auf einmal«, erklärt Matt, »aber so nach und nach. Am Anfang haben alle ihre Hilfe angeboten, doch dann hat sie mit Leichtathletik aufgehört und ist aus einigen anderen Clubs ausgestiegen, denen sie angehörte. Auch auf Partys konnte sie nicht mehr gehen. Irgendwann rief niemand mehr an. Du bist Audreys Freundin. Wahrscheinlich bist du sogar ihre einzige Freundin.«
Ich versuche, ein Grinsen zu unterdrücken. »Ich habe außer ihr auch keine Freunde«, sage ich langsam und komme für mich zu dem Schluss, dass es nicht gelogen ist, da Megan für mich eher die Rolle einer Schwester einnimmt. Ich drehe mich nach vorn, wo langsam Omaha am Horizont erscheint.
»Und was
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