Die fünf Leben der Daisy West
ist jeder seines Wegs gegangen, und doch sind wir instinktiv in der Nähe des anderen geblieben. Als ich mich jetzt, wie von einer unsichtbaren Kette gezogen, in die Küche begebe, weil ich Durst habe, ist er bereits dort. Sein Kopf steckt im Kühlschrank. Anschließend setzt er sich im Wohnzimmer aufs Sofa. Ich folge ihm, lehne mich ans Klavier und lasse den Blick über die Fotos an den Wänden schweifen. Dabei wünsche ich mir sehnlichst, dieser Tag möge bald zu Ende gehen. Als mich Matt dann im Vorbeigehen an der Schulter streift, wird mir bewusst, dass wir einander Kraft geben, indem wir uns auf das konzentrieren, was wir noch haben: uns gegenseitig.
Als Mason auf mich zukommt und sagt, es sei Zeit zu gehen, sitzt Matt neben dem Kamin. Ich bin vollkommen erschöpft und habe keine Ahnung, ob es acht oder Mitternacht ist. In meiner neuen, fremden Welt wäre beides möglich.
Knapp fünf Meter voneinander entfernt starren Matt und ich uns an. Keiner von uns bewegt sich. Wir beide wissen, dass es erst noch schwieriger werden wird, bevor Besserung in Sicht ist.
»Gut«, sage ich und blicke weiter zu Matt. Ich werde ihn in der Schule sehen, wenn er wieder zum Unterricht geht. Doch es wirdanders sein. Jetzt zu gehen, ist wie ein Abschied von unserem alten Ich, von jeglicher friedlichen Unbekümmertheit.
Lebe wohl, Halcyon ...
Tränen schießen mir in die Augen, die auf Matt gerichtet bleiben, bis ich die Tür erreicht habe und um die Ecke biegen muss. Selbst als ich mich schließlich abwende, kann ich seinen Blick noch spüren. Ich weiß nicht, wie es meinen Füßen gelingt, sich fortzubewegen, doch sie tun es. Als ich den schwarzen Geländewagen erreiche, lasse ich mich auf die Rücksitzbank fallen und schlafe sofort ein. Benommen wanke ich, von Mason gestützt, ins Haus und lege mich mitsamt der Beerdigungskleidung – auch den Schuhen – ins Bett.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
32
Erschrocken fahre ich hoch. Es ist vier Uhr morgens, ich bin in meinem Bett. Das Herz klopft mir bis zum Hals und ich lausche nach Anzeichen, weshalb ich aufgewacht bin. Von unten höre ich zwei Paar Schritte durchs Haus eilen.
Ich springe aus dem Bett und renne ins Labor hinunter, um nachzusehen, was dort los ist.
»Geh wieder ins Bett«, sagt Mason, als er mich sieht. »Es ist alles in Ordnung.«
»Was macht ihr hier?«, erkundige ich mich. Im nächsten Moment registriere ich, wo er steht, und mir wird eiskalt: Er steht direkt vor der schwarzen Kassette.
»Gott will, dass wir etwas ausprobieren«, antwortet er und scheint sich ganz und gar nicht wohl in seiner Haut zu fühlen. Cassie blättert kopfschüttelnd in einer Akte.
»Wo sind bloß diese Formulare?«, fragt sie.
»Ich bin mir nicht sicher, ob wir sie brauchen«, sagt Mason leise. »Was glaubst du, wie viele Spritzen wir mitbringen sollen?«
»Wir brauchen höchstens drei, aber für alle Fälle sollten wir fünf mitnehmen.«
»Was sollt ihr ausprobieren?«, mische ich mich ein.
»Ein Unfall ... ein Mann ... er kam von der Nachtschicht nach Hause«, erklärt Mason knapp. »Ein Hausmeister. Totalschaden. Gott will, dass wir versuchen, ihn mit Revive wiederzubeleben.«
»Aber bei Erwachsenen funktioniert es doch nicht«, sage ich entgeistert.
»Ich weiß«, erwidert er.
»Und es ist mitten in der Nacht«, fahre ich fort.
»Ich weiß.«
»Und die Testgruppe besteht nur aus den Revive-Kids und ...«
»Ich weiß!«, ruft Mason. Er fährt herum und funkelt mich böse an, doch ich weiß, dass sein Zorn nicht gegen mich gerichtet ist. »Glaubst du nicht, dass ich das alles weiß? Das Programm soll unter Kontrolle bleiben. So etwas wie mit diesem Mann war nie geplant. Wir wussten nicht einmal, dass Gott an einem zweiten Projekt arbeitet, bis er uns Anfang dieser Woche Revive II geschickt hat. Jetzt erwartet er von uns ...« Mitten im Satz bricht er ab und holt tief Luft. »Mach dir keine Sorgen, Daisy«, sagt er dann ruhiger. »Wir haben den lokalen Rettungsdienst abgehört. Sie sind bereits unterwegs. Wenn wir es nicht schaffen, vor ihnen dort zu sein, können wir es nicht ausprobieren.«
Ich beobachte, wie Mason die Kassette mit den Revive-Spritzen öffnet und die Hand langsam über den Inhalt bewegt, um fünf von den fünfzig auszuwählen. Unruhig halte ich den Blick auf die Kassette gerichtet. Neunundvierzig von ihnen können diesen Mann womöglich retten, die mit Wasser gefüllte sicher nicht. Mir wird abwechselnd
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