Die fünfte Kirche
ungebrochen.
«Was für einen dürren Hals sie hatte, wie ein alter Vogel. Hat versucht, ihren dürren Hals unter einem schicken Seidenschal zu verstecken. Aber ich habe ihn trotzdem entdeckt, Mrs. Watkins.»
Oh Gott.
Merrily versteifte sich in ihrer halbgebeugten Stellung. Sehnige Hände um einen dürren Hals. Vielleicht ein fest zugezogener Seidenschal.
«Sie wollte es jedem erzählen, diese verdammte Ziege!
Jedem!
Wollte in ganz Radnorshire herumposaunen, dass Mrs. Prosser, die Frau vom Landrat, eine Lesbe ist! Wie kann sie es
wagen
, mich eine Lesbe zu nennen? ‹Ich werde sie verklagen!›, hab ich gesagt. ‹Ich sage
J. W
., er soll Sie verklagen. Mal sehen, wie lange Sie dann mit Ihrem englischen Geld auskommen!›»
Merrily würgte.
«Haben Sie noch nie Blut gesehen, Mrs. Watkins? Wir habenunsere Schweine immer selber geschlachtet, als ich ein Mädchen war. Wir haben gemacht, was wir wollten, bis all diese Regeln kamen. All diese Regeln … die haben das Leben auf dem Land zerstört.» Sie wurde ruhiger, seufzte. «Armer Jeffery – es ist, als würde man ein altes Pferd notschlachten.»
«Was … war denn mit ihm los?»
«Das war so, seit sie gestorben ist.» Sie machte eine Kopfbewegung in Richtung des Grabes. «Seitdem war er kaum noch richtig wach. Konnte es nicht ertragen, wach zu sein.»
«Hat er … Medikamente genommen? Von Dr. Coll?»
«Er wollte keine. Er hat gesagt, die Trauer raubt ihm alle Energie, frisst ihn von innen auf.»
Raubt ihm alle Energie?
Menna.
«Wissen Sie, was ich finde?», sagte Judith wieder lebhafter. «Ich finde, er hätte Sie umbringen sollen, Mrs. Watkins.»
Merrily spürte, wie sich ihr rechtes Bein verkrampfte. Sie musste sich bewegen.
«Das finde ich wirklich. Überall müssen Sie sich einmischen. Vater Ellis hinterherspionieren.»
Merrily lehnte sich an die Wand, streckte das Bein aus und sah auf. In die schwarzen, nach Metall riechenden Doppelläufe des Gewehrs, direkt vor ihrem Gesicht.
Judith sagte: «Vielleicht
hat
er Sie ja erschossen.» Sie hob in einer ekelhaften, kindlichen Geste eine Hand an den Kopf, als versuche sie nachzudenken. «Wahrscheinlich hat er Sie erschossen, bevor er sich selbst umgebracht hat. Hat Ihren kleinen Kopf mit der einen Kugel zerschossen und die andere für sich selbst aufgehoben. Er war Anwalt. Ein logisch denkender Mann.»
Sie wirkte höchst erfreut – diese Frau war verrückt.
Merrily sah am Lauf des Gewehrs entlang bis zum Schaft. Sie sah zwei Abzüge, einen etwas vor dem anderen, Judiths Finger lag amzweiten. Dass es beim ersten Mal so schnell gegangen war, bedeutete wahrscheinlich, dass nicht viel Spannung auf den Abzügen lag.
Merrily riss ihren Kopf zur Seite, aber die beiden Löcher folgten ihr.
Judith war eine praktisch denkende Frau.
«So ein Ding habe ich mit neun Jahren zum ersten Mal benutzt», sagte sie stolz. «Damals konnte ich es kaum hochheben. Ich habe zugesehen, wie mein Vater Krähen geschossen hat.» Sie lächelte glücklich. «Ein Mädchen vom Land, wissen Sie, ein halber Junge. Und schon immer eine bessere Schützin als Landrat Prosser.»
Der Finger am Abzug entspannte sich. Merrily hielt immer noch den Atem an. Hatte sie genug Kraft, um sich von der Wand abzustoßen und den Lauf zur Seite zu schlagen? Als hätte Judith ihre Gedanken gelesen, trat sie einen Schritt zurück. Sie lächelte.
«Jeffery dachte, Sie wären einer von den Hippies, ein Einbrecher. Sie sind auf ihn zugegangen, und sein Gewehr ging los. Das werden sie glauben, oder? Und als er sah, was er getan hatte, hat er das Gewehr gegen sich selbst gerichtet. Selbstmord bei gestörtem Geisteszustand. Vor zwei Jahren waren Landrat Prosser und ich bei einer gerichtlichen Anhörung. Einer unserer alten Nachbarn hatte sich erhängt – Urteil: Selbstmord bei gestörtem Geisteszustand. Jeder hier wusste, dass J. W.s Geisteszustand gestört war.»
Merrily schüttelte hilflos den Kopf.
Judith wedelte mit den Fingern, um zu zeigen, dass sie immer noch Handschuhe trug. «Hat das Gewehr fallen lassen, als er gestorben ist. Beide tot.» Sie warf einen kurzen Blick zu dem offenen Grab. «Ist gekommen, um von seiner Frau Abschied zu nehmen, bevor er sich umgebracht hat. Armer Jeffery, jetzt ist er bei ihr – glauben Sie nicht, Mrs. Watkins?»
«Ja.»
Judith wurde rot. «Quatsch! So ein Müll! Wie kann eine
Frau
nur so dumm sein. Da ist gar nichts nach dem Tod! Menna wartetmit offenen Armen in den Wolken auf
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