Die Gabe der Magie
hörte, wie er seine Tür hinter sich schloss. Dann ließ
sie sich auf einen Stuhl sinken. Sein ganzes Leben lang hatte Franklin
Bestrafungen ertragen, die er nicht verdient hatte. Somiss wusste, dass sie es
nicht übers Herz bringen würde, diese Serie fortzusetzen. Er wusste es.
Sadima ging wieder zum Tisch und setzte
sich. Es dauerte eine Weile, bis sich ihre Hände so weit beruhigt hatten, dass
sie nach dem Federkiel greifen konnte. Mit dem kleinen Messer schärfte sie die Spitze.
Nachdem sie die Kopien fertiggestellt hatte, nahm sie sie und lief den Flur
hinunter.
Als sie vor Somiss’ Tür stand, traf sie
eine Entscheidung. Sie würde weiterarbeiten, um Somiss bei Laune zu halten,
aber sie würde Franklin überreden, ihn zu verlassen. Sie musste ihm vor Augen
führen, wie böse Somiss war – nein. Er wusste das bereits viel besser, als sie
es je auch nur würde ahnen können. Was sie ihm deutlich machen musste, war die
Tatsache, dass er weggehen konnte.
Der schwache Klang einer Stimme riss
Sadima aus ihren Gedanken. Sie stieß den Atem aus. Somiss las laut vor. Sadima
zögerte – was wäre, wenn ihr Klopfen ihn erschrecken würde? Sie lauschte an der
Tür, während er das Lied für ein langes Leben vortrug. Aber es war nicht das
gleiche wie das, was ihr Hannah beigebracht hatte. Nicht
ganz jedenfalls. Die erste Zeile war ein wenig anders. Die zweite Strophe hatte
eine Zeile, die sie überhaupt nicht kannte. Stammte diese Version aus dem Zigeuner-Buch?
Dann verebbte seine Stimme, und sie konnte nur noch ein Murmeln hören.
Vorsorglich wartete sie, bis er ganz
verstummte, dann noch einige Augenblicke länger. Erst dann pochte sie mit einem
Finger gegen die Tür. Er antwortete nicht. Sie bückte sich, um die Papiere
unter der Tür hindurchzuschieben. Somiss rief keinen Dank, aber sie hörte das
Rascheln, als er die Bögen aufhob.
Sie bereitete das Abendessen vor, und bei
dieser schlichten Tätigkeit wurde ihr ein wenig leichter ums Herz. Der Geruch
von gebackenem Huhn erfüllte die ganze Wohnung, und Sadima bemerkte, dass sie
bei der Arbeit vor sich hin summte. Sie schob die fertige Soße auf die weniger
heiße Seite des Herdes, dann schälte sie Pastinaken, um sie mit Butter und ein
wenig Honig zu dünsten. Sie konnte spüren, wie die kalte Abendluft unter den
Balkontüren hindurch ins Zimmer drang.
Als Franklin kam, waren seine Wangen von
der Nachtluft gerötet, und sein Hemd starrte vor Schmutz. Sadima drehte sich zu
ihm um, als er gerade die Küche betreten wollte. Er blieb stehen und legte den
Kopf schräg, schaute sie an, und ein leichtes Lächeln verzog seinen Mund, als
er die Kappe entdeckte.
Sie lachte. »Somiss sagt, das wäre so in
Ordnung.« Er sah so erleichtert aus, dass es
ihr Herz anrührte. Sie woll te ihm erzählen, was Somiss sonst noch gesagt
hatte, aber nicht jetzt. Nicht, bis sie irgendwo in Sicherheit waren, wo Somiss
sie niemals finden würde.
50
ICH GEWOHNTE MIR EIN RITUAL AN. NACH DEM
UNTERRICHT VERLIESS ICH DIE KLASSE UND HASTETE ZUM Speisesaal. Wenn er leer war – und ich lief an den Wänden entlang
und durchkämmte die Schatten, um ganz sicherzugehen –, ließ ich noch mehr Essen
entstehen, das ich in die kleine Kammer schaffte, die ich entdeckt hatte. Bald
schon stapelten sich dort Käse mit einer Rinde aus Bienenwachs, Äpfel und
geräuchertes Fleisch. Als der Raum zur Hälfte gefüllt war, begann ich damit,
auch an anderen Stellen Nahrung zu verstecken. Falls ich vorsichtig genug war,
sodass man mich nicht erwischte, würde ich auch dann eine Chance haben zu
überleben, wenn sie uns wieder hungern ließen. Und, so sagte ich mir, selbst
wenn sie mich töteten, würde es eines Tages einen Jungen geben, der überleben
würde, weil er das Essen fand, das ich verborgen hatte.
Die erste Kammer nannte ich die Halle der
Hoffnung, und sie wurde mir lieb und teuer. Dorthin kehrte ich zurück, wann
immer ich konnte. Gegen den Stein gelehnt, ging ich Franklins Atemübungen
durch, bis selbst meine leisesten Gedanken verstummten. Dann gab es nur noch Bilder, kurze Momentaufnahmen von Celia, die mich
umarmte, einem hübschen Dienstmädchen, dem Geruch von Mutters Zimmer, nachdem
sie ein Bad genommen hatte, Erinnerungen an Mädchen, die meinen Bruder auf den
Empfängen zum Winterfest angelächelt hatten, und das Rascheln ihrer
Seidenkleider, das Geheimnisse zu verheißen schien, wenn sie sich ganz nahe zu
ihm hinbeugten.
Manchmal berührte ich mich selbst. Die
Vorstellung, dass
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