Die Gabe der Patricia Vanhelsing - 5 Patricia Vanhelsing-Romane (Sonderband) (German Edition)
sah...
Für Sekundenbruchteile sah ich ein Bild vor meinem inneren Auge. Ein fauchender Tiger... Es dauerte nicht länger als einen Augenaufschlag lang.
"Was ist das für eine Zeichnung hier auf dem Tisch?" fragte ich und tastete mit der Hand darüber. Es handelte sich um mehrere ineinander verschränkte Dreiecke, deren Schenkel geformt waren wie... Knochen! wurde es mir auf einmal klar. Einen Herzschlag lang sah ich ein weiteres Bild vor mir. Eine Höhle. Ein großer Felsbrocken. Eine grüne, lodernde Flamme, die irgendwie nicht wie ein gewöhnliches Feuer wirkte und alles in ein merkwürdiges Licht tauchte. Tanzende Schatten und... Berge von Knochen. Tierische Gerippe, Schädel mit Raubtiergebissen... Dann war es vorbei.
"Ist das jetzt so wichtig?" fragte Mrs. Thornhill etwas irritiert.
Ich sah sie an. "Vielleicht ja."
"Es handelt sich um eine Höhlenzeichnung. Mein Mann fotografierte sie auf einer seiner Reisen. Und dieses Motiv faszinierte ihn dermaßen, daß er es in den Marmor dieses Tisches einarbeiten ließ..." Mrs. Thornhills Blick wirkte fassungslos. "Seltsam..." murmelte sie.
"Was?" hakte ich nach. Das Bild mit den Knochenbergen in der Höhle war sehr intensiv gewesen. Es wirkte noch ein wenig nach, und ich zerbrach mir den Kopf darüber, was es wohl zu bedeuten haben mochte.
"Es ist geradezu gespenstisch", sagte sie. "Aber diese Zeichnung könnte in gewisser Weise tatsächlich mit dem Tod meines Mannes zu tun haben..."
"In wie fern?"
"Ich will versuchen, es Ihnen zu erklären." Sie atmete tief durch. "Diese Zeichnung ist ein Höhlenbild, das magischen Zwecken diente... Der Beschwörung eines Uksaki!"
"Was ist ein Uksaki?" fragte ich.
"Sie haben nie davon gehört?"
"Nein."
"In der Vorstellung einiger Völker in Sibirien verbirgt sich hinter diesem Begriff die Vorstellung von GeisterTigern, die als Jagdgötter mit gewaltigen, übernatürlichen Kräften verehrt wurden. Nach Malcolms Ansicht sind die Uksaki-Legenden viele Jahrtausende alt und haben sich in fast unveränderter Form bis heute in Teilen Zentralasiens und Sibiriens erhalten..."
"Ihr Mann starb durch den Schlag einer Tiger-Pranke", stellte ich fest. "Ist das der Zusammenhang?"
"Ja, in gewisser Weise..."
"Sir Malcolm soll okkulte Experimente durchgeführt haben..."
"Das ist wahr. Ich bin leider in den Großteil seiner Forschungen nur am Rande involviert gewesen. Wenn Sie Einzelheiten wissen wollen, sollten Sie seinen Assistenten, Mr. Norman Garrison befragen. Die Adresse kann ich Ihnen gerne heraussuchen."
"Danke."
Mrs. Thornhill erhob sich plötzlich. "Ich möchte Ihnen etwas zeigen... Etwas, das ich der Polizei nicht gezeigt habe..." Sie ging quer durch den Raum bis zu einem großen, etwas klobig wirkenden Schreibtisch und öffnete eines der Schubfächer. Mrs. Thornhill erstarrte. "Es ist weg!" flüsterte sie.
Wir erhoben uns ebenfalls . Mit wenigen Schritten hatte ich sie erreicht. "Wovon sprechen Sie?" fragte ich. Sie atmete tief durch. "Ich spreche von einem kleinen Kästchen, in dem sich zu Pulver zerriebene Tigerknochen befanden. Malcolm war besessen von dem Gedanken, einen Uksaki zu beschwören..."
"Dazu brauchte er das Knochenpulver?"
"Ja."
"Hat er diese Beschwörung auch durchgeführt?"
"Ich weiß es nicht... Wie gesagt, er hat mich in diese Dinge nicht einbezogen. Aber ich halte es für möglich!"
"Könnte es sein, daß sein Tod dadurch verursacht wurde?"
"Wenn ich das wüßte..." Mrs. Thornhills Blick war nach innen gekehrt. "Hier, in diesem Raum muß es geschehen sein. Ich war für ein Wochenende nach Amsterdam geflogen, um eine Ausstellung zu besuchen. Hier, in diesem Raum wurde er gefunden."
"Von wem?" fragte Tom.
"Von Mr. Garrison, seinem Assistenten. Merkwürdig, daß das Pulver nicht mehr hier ist..."
"Wer hatte Zugang zum Haus?"
"Das Hausmädchen, der Butler und..."
"Mr. Garrison?" fragte ich.
"Ja", murmelte sie. "Nichts von dem, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, habe ich der Polizei mitgeteilt. Schließlich möchte ich nicht endlose psychiatrische Untersuchungen über mich ergehen lassen. Sollten Sie es veröffentlichen, wird man denken, daß Sie es sich ausgedacht haben, Miss Vanhelsing... Sie können keinen Schaden anrichten. Aber vielleicht finden Sie etwas über die wahren Hintergründe heraus. Ich habe Ihre Artikel gelesen. Und ich kenne die Arbeit Ihrer Großtante... Wem sonst sollte ich mich mit einer Geschichte wie dieser anvertrauen?"
*
"Eine etwas wunderliche Frau, die die Forschungen
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