Die Gabe der Zeichnerin: Historischer Roman (German Edition)
den Stift führte und mit der Xenia argumentiert hatte. Schon schaufelt sie sich die nächste Lüge zurecht, dachte er. Wenn ich nichts sage, wird nie jemand erfahren, dass hier zwei Menschen unter dem Boden liegen. Wieder wird sie lügen. Ich sehe es vor mir: Erst wird sie sich entsetzt an die Brust fassen, dann die Hände an die Wange legen, zum Zeichen, dass sie kurz eingeschlafen war. Dann wird sie die Augen aufreißen, die Arme ausbreiten und mit den Schultern zucken, um anzuzeigen, dass ihr Vater verschwunden war, als sie nach kurzem Schlaf erwachte. Oh, wie bestürzt sie sich darüber geben wird! Wahrscheinlich wird sie in Tränen ausbrechen. Und da auch Dunja nicht mehr aufzufinden sein wird, werden die Leute denken, die Frau hätte ihren toten Mann aus dem Oktogon gestohlen und wäre mit der Leiche davongezogen. Man wird über einen dem Hof unbekannten Zug nach Konstantinopel munkeln. Dem hätte sie sich angeschlossen, damit ihr Gemahl in heimatlicher Erde bestattet werden kann. Während er auf der Reise allmählich verwest. Alle werden sich vor Grauen schütteln und darob jeden zusätzlichen Gedanken an Meister Iosefos weit von sich schieben. Das Mitgefühl wird sich auf den armen Architectulus verlagern, dem nach des Vaters entsetzlichem Tod auch noch die Mutter abhandengekommen ist. Lucas fiel Ezras Bemerkung ein, Dunja sei nicht ihre Mutter gewesen. In dieser Familie, wenn man sie überhaupt so nennen konnte, gab es der Lügen offenbar kein Ende.
Ezra hielt inne, um tief durchzuatmen. Sie stützte sich auf den Spaten.
»Hilf mir doch!«, rief sie zu Lucas hinüber. »Wir müssen tief graben. Ich möchte nicht, dass die Totenruhe meines Vaters durch Tritte gestört wird.«
»Auch lebendige Menschen bekommen Tritte versetzt«, erwiderte Lucas harsch.
Sie senkte das Haupt.
»Gewiss«, flüsterte sie. »Manchmal muss man um sich schlagen, um ihnen auszuweichen. Und manchmal muss man sich vor ihnen verstecken. Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst. Aber ich bitte dich, Lucas, mir jetzt zur Hand zu gehen. Der Boden ist sehr hart.«
Die Mutlosigkeit in ihrer Stimme rührte wider Willen sein Herz und ließ ihn für einen Augenblick seinen Zorn vergessen. Ezra hatte gerade ihren Vater verloren, ihren einzigen Angehörigen. Und sie musste sich schuldig fühlen, dass sie Dunja nicht daran hatte hindern können, sich vom Gerüst zu stürzen. Über sein Mitgefühl siegte aber dennoch der Drang, Ezra für ihren Betrug zumindest ein wenig zu bestrafen. Wortlos verließ er das Oktogon.
Vor dem Eingang wartete er darauf, dass sie ihn zurückrief. Kein Laut drang heraus. Sie hatte ihren Stolz. Auch dafür liebe ich sie, dachte er ratlos und tastete sich im Dunkeln zu den Gerätschaften der Steinarbeiter vor. Er griff nach einer Hacke und freute sich, eine frische Fackel zu entdecken. Als er zurückkehrte, hätte ihn die Erleichterung in Ezras Miene fast lächeln lassen.
»Hiermit wird es müheloser gehen«, sagte er und brach neben ihr ein gewaltiges Stück Erde auf.
Ohne ein Wort hieb auch sie wieder auf den Boden ein. Der Schweiß rann in Strömen von ihrer Stirn und brannte ihr in den Augen. Sie legte den Spaten hin, zwirbelte mit rascher Bewegung das wirre lange Haar zu einem festen Knoten zusammen und wischte sich das nasse Gesicht mit einem Ärmel ab. Lucas arbeitete jetzt langsamer und unaufmerksamer. Er konnte den Blick nicht von dem wunderschönen Antlitz nehmen, das er in jedem wachen Augenblick der vergangenen Monate und in vielen Träumen herbeigesehnt hatte. Und in das er täglich geschaut hatte, ohne darin jemals die Züge der Geliebten zu erkennen. Sein geschulter Blick für Linien und Formen hatte ihn im Stich gelassen. Ezras Offenbarung machte ihn immer noch fassungslos.
Ezra stöhnte. Sie warf Marderfell und Kittel ab und arbeitete im Hemd weiter. Lucas biss sich auf die Lippen. Der Versuch, nicht hinzusehen, scheiterte kläglich. Er sah den dünnen Stoff, der auf Ezras Haut klebte. Dort, wo der breite Brustverband, der sich unter dem Hemd abzeichnete, nicht hinreichte. Er sah, wie sich die zarten und doch so kräftigen Arme hoben, um den Spaten niedersausen zu lassen. All dies ließ sein Blut so ungestüm durch die Adern fließen, dass er die Hacke zur Seite legen musste. Er fürchtete, sich aus Versehen selbst zu verletzen, und machte sich stattdessen an der zweiten Fackel zu schaffen. Es fiel ihm schwer zu atmen. Er musste sich Luft machen.
»Was wirst du den Leuten sagen, wenn dein
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