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Die Gabe des Commissario Ricciardi

Die Gabe des Commissario Ricciardi

Titel: Die Gabe des Commissario Ricciardi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio de Giovanni
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vorweihnachtliches Chaos herrschte, gewann man innerhalb des Hafens einen ganz anderen Eindruck. Waren- und Passagierverkehr waren ordentlich voneinander getrennt und eine Fülle von Personen, die sich gemäß einer geschickt organisierten Choreographie bewegten, erledigten ihre Arbeit sehr effizient.
    Der Hafen war der größte Italiens und schien sich dieser Position bewusst zu sein: Ganze Geschwader von Gepäckträgern kreuzten die Wege der gerade von Bord gegangenen oder sich einschiffenden Besatzungen, Dutzende von Transportarbeitern beluden oder entluden unaufhörlich riesige Laderäume, schwere Fahrzeuge und Pferdekarren standen zwecks Warenkontrolle am Ausgang Schlange. Wer von den großen transatlantischen Kreuzfahrtschiffen an Land ging, wurde von hüb
schen Helferinnen in Uniform zum Fußgängerausgang geleitet. Maione stellte sich den Schock vor, den die Passagiere erleiden würden, wenn sie sich in dem erschreckenden Durcheinander der Stadt wiederfanden.
    Ricciardi ging schnell. Die Hände in den Manteltaschen, die Haare zerzaust, blickte er starr vor sich hin. Den Augen seiner Seele offenbarten sich neben der vielbeschäftigten Menschenmenge auch andere Wesen.
    Ein auf dem Kai stehender Jüngling, dessen Arm von einem Schiffstau abgetrennt worden war und dessen Blut kraftvoll aus der scharf durchschnittenen Arterie gepumpt wurde, murmelte: Mama, hilf mir doch, Mama . Ein Mann, der auf dem Boden neben einer Abladebühne saß, die nun von einer Gruppe fröhlich singender Arbeiter besetzt war, war von einer Kiste zerquetscht worden: Sein Brustkorb war eingedrückt und anhand der Kopfhaltung war leicht zu erkennen, dass seine Wirbelsäule gebrochen war. Er murmelte: Das ist die letzte, die eine mach' ich noch und dann geh' ich . Schade, überlegte der Kommissar. Wenn die vorletzte die letzte gewesen wäre, wärst du jetzt vielleicht zu Hause bei deinen Kindern. Du wolltest zu viel. Umso schlimmer für dich. Und auch ein bisschen für mich, dachte er.
    Unter den vielen uniformierten Männern, die die Vorgänge im Hafen überwachten, befanden sich auch Angehörige der Hafenmiliz: Sie trugen einen graugrünen Filzhut und einen gleichfarbigen Militärrock mit Rückenschnalle. Tatkräftig wirkten sie, präzise und energisch. Während Maione auf die Kaserne zusteuerte, überlegte Ricciardi, dass eine Militärorganisation, die parallel zu der des Staates bestand, aber einer Partei verpflichtet war, tendenziell gefährlich war. Andererseits hatte diese Par
tei bei den letzten Wahlen mehr als neunzig Prozent der Stimmen erhalten, weshalb man sie leicht mit dem Staat verwechseln konnte.
    Was ihn betraf und was er auch Modo begreiflich zu machen versuchte, wenn der ihn in seine antifaschistischen Hasstiraden mit einbezog, so interessierte Politik ihn nicht im Geringsten. Er war der Ansicht, dass die Wurzel allen Übels letztendlich die menschliche Natur war, und dagegen gab es kein Heilmittel.

    Die Kaserne der Miliz lag nicht zentral, doch strategisch günstig: Nicht weit entfernt führten die Gleise der Warenwaggons daran vorbei, die von den Schiffen zum Bahnhof weiterfuhren. Das Zivilpersonal hielt sich, intuitiv vielleicht, ein wenig abseits. Man zog es vor, einen kleinen Umweg zu machen, anstatt an den Kasernenmauern entlangzulaufen. Es wirkte, als habe die bunte Hafenwelt nichts mit der Kaserne zu tun.
    Auf der Suche nach dem Haupteingang gingen die beiden Polizisten um das Gebäude herum. Der Bau war zweistöckig, einfach und solide, wie es die Architektur des Regimes forderte. Zwischen dem ersten und dem zweiten Stock prangte über dem Eingangstor der Schriftzug »Kaserne Mussolini«. Ricciardi erinnerte sich an die Einweihungsfeier vor ein paar Jahren, unter Teilnahme des Duce höchstpersönlich, und daran, wie Garzo damals vor Anspannung zu zerplatzen drohte, was für ihn typisch bei solchen Anlässen war.
    Die Wache am Eingang nahm ihre Personalien auf, dann sprach sie leise in eine moderne Sprechanlage. Maione dachte betrübt an die vielen Kilometer, die sie im Präsidium über Treppen und Korridore zurückgelegen mussten, um einfache dienst
liche Mitteilungen zu machen. Eine Minute später erschien ein Unteroffizier, der sie mit steifem römischen Gruß empfing:
    – Erster Gruppenkommandant Precchia Catello, – stellte er sich vor. – Folgen Sie mir bitte.
    Der Kommandant erklomm im Laufschritt die große Freitreppe. Maione und Ricciardi wechselten einen amüsiert bedauernden Blick und folgten ihm, so

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