Die Gärten des Mondes
Hügel die blassen Kuppeln von Hoch-Thalanti vor dem grauen Himmel ab.
Der Tempel zählte zu den ältesten Gebäuden der Stadt; seine Grundmauern waren mehr als zweitausend Jahre alt. Die ThalantiMönche waren, wie so viele andere auch, wegen des Gerüchts gekommen. Rallick wusste nur wenig über diese ganze Geschichte, im Gegensatz etwa zu Murillio und Coll. Man hatte wohl geglaubt, dass ein Mitglied eines der Älteren Völker irgendwo in den Hügeln begraben sei, ein Wesen von großem Reichtum und ebenso großer Macht - mehr wusste er nicht.
Doch es war ein Gerücht mit vielen Folgen gewesen. Wären nicht tausende von Schächten in die Erde getrieben worden, hätte man die Gaskavernen niemals gefunden. Und während viele dieser Schächte längst eingestürzt und über die Jahrhunderte hinweg in Vergessenheit geraten waren, gab es noch immer genug, und diese waren inzwischen durch Tunnel miteinander verbunden.
In einer der vielen Kammern, die den Erdboden unter dem Tempel durchlöcherten, wartete Vorcan, die Meisterin der Assassinen. Rallick stellte sich vor, wie Ozelot hinabstieg, die Bürde der Meldung einer neuerlichen Katastrophe auf seinen Schultern, und diese Vorstellung zauberte ein Lächeln auf sein schmales Gesicht. Er war Vorcan noch nie begegnet, doch Ozelot passte zu jenen Katakomben -nur eine weitere Stadtratte, die unter seinen Füßen umherhuschte.
Rallick war überzeugt davon, dass er eines Tages selbst ein Clanführer sein und Vorcan irgendwo dort unten von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen würde. Er fragte sich, inwiefern ihn das verändern würde, und je länger er diesen Gedanken verfolgte, desto größer wurde sein Missvergnügen.
Doch er hatte keine andere Wahl. Während er sich dem Block näherte, in dem das Phoenix lag, dachte er daran, dass er einst, vor langer Zeit, eine andere Wahl hätte treffen können, eine Wahl, die ihn auf einen anderen Weg geführt hätte. Aber jene Tage lagen weit zurück, und in der Zukunft warteten nur noch Nächte, ein Streifen aus Dunkelheit, der in die ewige Schwärze führte. Er würde Vorcan schließlich treffen und der Meisterin der Gilde sein Leben verpfänden, und das wäre es dann gewesen. In diesem Augenblick würde sich die letzte Tür endgültig schließen.
Seine Empörung über all die Ungerechtigkeit um ihn herum, über die Verdorbenheit der Welt, würde in den unbeleuchteten Tunneln unter Darujhistan vergehen. Es war fast wie die sorgfältige Planung eines Mordes, nur würde sein letztes Opfer schließlich er selbst sein.
Mehr als alles andere machte dies die Intrige, die er und Murillio planten, zu dem letzten Akt von Menschlichkeit, den er jemals begehen würde. Nach Rallicks Meinung war Verrat das Größte aller Verbrechen, denn es nahm einem Menschen alles Menschliche und machte Schmerz daraus. Verglichen damit war selbst ein Mord harmlos: Er ging schnell, und er beendete die Angst und Verzweiflung eines Lebens ohne jede Hoffnung. Wenn alles wie geplant vonstatten ging, würden Lady Simtal und all jene Männer sterben, die sich mit ihr verschworen hatten, um ihren Mann, Lord Coll, zu betrügen. Konnte dadurch das Falsche zu etwas Richtigem werden, konnten so die Waagschalen der Vergeltung ausbalanciert werden? Nein, doch vielleicht konnte eine solche Tat einem Mann sein Leben und seine Hoffnung zurückgeben.
Für ihn, Rallick, waren solche Gaben schon längst dahin, und er gehörte nicht zu den Männern, die in der Asche herumstocherten. Nicht ein einziger Funke hatte überlebt, und daher konnte auch keine neue Flamme geboren werden. Das Leben gehörte anderen Menschen, und sein einziges Anrecht darauf war seine Macht, es ihnen zu nehmen. Und selbst, wenn die Hoffnung zu ihm käme - er würde sie nicht einmal mehr erkennen. So fremd war sie ihm schon seit langer Zeit geworden.
Als Rallick sich dem Eingang des Gasthauses näherte, sah er Crokus die Straße heraufkommen. Er beschleunigte seine Schritte. »Crokus«, rief er.
Der Junge zuckte zusammen; dann, als er Rallick erkannte, blieb er stehen und wartete.
Rallick packte ihn am Arm und zog ihn wortlos in die Gasse. In der dort herrschenden Düsternis verstärkte er seinen Griff, drehte Crokus herum und zog ihn dicht an sich heran. »Hör zu«, zischte er. Sein Gesicht war nur eine Winzigkeit von dem des erstaunten Jungen entfernt. »Heute Nacht sind die Besten der Gilde niedergemetzelt worden. Das ist kein Spiel. Du bleibst von den Dächern weg, hast du verstanden?«
Crokus
Weitere Kostenlose Bücher