Die galante Entführung
Erst als er Mrs. Clapham am nächsten Morgen traf, schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, daß ihm die Vorsehung vielleicht wieder einmal zu Hilfe gekommen sei. Unter einer Witwe, die mit großem Gefolge reiste und ihr eigenes Bettzeug mitbrachte, hatte er sich eine ältliche Matrone mit Turban, Überbleibsel einer vergangenen Generation vorgestellt. Mrs. Clapham mochte ja Witwe sein, aber eine ältliche Matrone war sie keineswegs. Sie war eine sehr junge Frau, zwar kein Mädchen mehr, aber um keinen Tag älter als dreißig, falls überhaupt so alt. Sie war außerdem auffallend hübsch mit einem einladenden Mund und braunen Augen, die unschuldig und riesengroß waren, bis sie züchtig die Augenlider senkte und unter dem Vorhang ihrer geschwungenen Wimpern seitwärts hervorlugte. Da wurde sie unverkennbar aufreizend. Sie war sehr elegant gekleidet, aber in einer gedämpften Schattierung von Lavendelblau, die anzuzeigen schien, daß sie zwar ihre Trauer abgelegt, ihr schmerzlicher Verlust jedoch noch ziemlich jungen Datums war. Als Stacy sie zum erstenmal sah, trippelte sie gerade die Treppe herunter und versuchte dabei, einen Handschuh zuzuknöpfen, ohne das Gebetbuch in ihrer Hand fallen zu lassen. Als Stacy zu ihr emporblickte, entschlüpfte es ihrem unsicheren Griff und fiel ihm fast vor die Füße.
»Oh!« rief sie unglücklich aus und plapperte weiter, als Stacy es aufhob und die verknitterten Seiten glättete: »Oh – wie liebenswürdig von Ihnen! Danke! So dumm von mir! Das ist alles die Schuld dieser lästigen Handschuhe, die doch ewig aufgehen!«
Ihre Gesellschafterin, die ihr die Treppe hinab folgte, schnalzte leise bedauernd mit der Zunge und sagte: »Bitte, erlauben Sie, Mrs. Clapham!«
Mrs. Clapham hielt ihr hilflos das Handgelenk hin und wiederholte mit einem kläglichen Lächeln zu Stacy: »So dumm von mir! O danke, liebe Mrs. Winkworth! Ich weiß nicht, wie ich ohne Sie zurechtkäme!«
Stacy, der ihr das Gebetbuch reichte, verbeugte sich in köstlicher Anmut und sagte: »Die eine oder andere Seite ist ein bißchen zerknittert, Ma’am, aber kein unersetzlicher Schaden, vermute ich. Darf ich so frei sein, mich Ihnen bekannt zu machen? – Stacy Calverleigh, Ihr untertänigster Diener!«
Sie reichte ihm eine eng behandschuhte Hand. »O ja! Und ich bin Mrs. Clapham, Sir. Das ist Mrs. Winkworth, die so gut für mich sorgt. Wir sind auf dem Weg zur Kirche, in der Abtei. Welch ein Gefühl mir das schenkt! Ich habe noch nie einem Gottesdienst in einer Abtei beigewohnt, ist das nicht albern?«
»Zum erstenmal in Bath, Ma’am?« erkundigte er sich und schenkte ihrer Gefährtin eine gemäßigte Verbeugung.
»O ja! Ich war noch nie im Leben hier, obwohl ich schon in Tunbridge Wells war. Aber ich habe in letzter Zeit zurückgezogen gelebt, auf dem Land, nur war es derart melancholisch, daß ich ganz trübsinnig wurde. Also riet mir der Arzt, nach Bath zu fahren und die heißen Bäder zu nehmen und vielleicht eine Trinkkur zu machen.«
»Die schmeckt ganz abscheulich!«
»Mrs. Clapham, die Glocke hat zu läuten aufgehört«, warf Mrs. Winkworth ein.
»Ja richtig! Wir müssen uns beeilen!«
Sie lächelte, verneigte sich und eilte fort. Mrs. Winkworth verbeugte sich ebenfalls ganz leicht, lächelte jedoch nicht.
In sehr gehobener Laune zog sich Stacy in sein Zimmer zurück, um die Möglichkeiten dieses neuen und unerwarteten Ereignisses zu erwägen. Mrs. Clapham war offenkundig reich, aber die Anwesenheit der Mrs. Winkworth sprach dafür, daß sie sorgfältig bewacht wurde. Mrs. Winkworth war eine Frau mittleren Alters, die in ihrer Jugend hübsch gewesen sein mußte, denn sie hatte wohlgeformte Züge und schöne, wenn auch ziemlich harte graue Augen. Stacy dachte nach ihrer unzugänglichen Miene und der etwas autoritären Art, die sie Mrs. Clapham gegenüber anwandte, daß sie eher als Anstandsdame denn als Gesellschafterin angestellt war, und das deutete darauf hin, daß die Verwandten der Witwe sie eifersüchtig vor Herren hüteten, die nach reichen Frauen aus waren. Mrs. Winkworth stammte sichtlich aus der Vorstadt; ihre verfeinerte Sprache überdeckte nur diesen unverkennbaren Dialektklang; Stacy hielt Mrs. Clapham für eine Provinzlerin, deren Gatte fast sicher sein Vermögen mit Handel erworben hatte.
Falls ein Vermögen vorhanden war – was noch nicht feststand. Es war nicht unbekannt, daß eine hübsche Witwe, die eine zweite und vornehmere Ehe eingehen wollte, in diesen Zweck ein
Weitere Kostenlose Bücher