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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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dein Ernst. Jeder Mensch hat ein…«
    »Ich wollte sagen, ich habe keinen Festnetz-Anschluss, aus denselben Gründen, weshalb du auf der Herfahrt die Augenbinde tragen musstest. Aber ich könnte dir mein Handy leihen.«
    Sie dachte ein, zwei Herzschläge lang darüber nach. Sollte sie ihr Gehirn dem Funkfeuer eines Mobiltelefons aussetzen und sich vielleicht für den Rest dieses ganz besonderen Abends Kopfschmerzen und Schwindel einhandeln?
    Kopfschüttelnd antwortete sie: »Ist schon gut. Das hat Zeit bis später.« Vermutlich war Lucy ohnehin noch mit ihren Kollegen unterwegs. Sie hatte ja angekündigt, dass es spät werden könnte.
    Theo nickte mit ausdrucksloser Miene und verschwand durch die Tür.
    Zunächst war Alex viel zu aufgeregt, um sich in die Betrachtung der Figuren zu vertiefen. Dafür hatte dieser nicht enden wollende Tag zu viele Überraschungen gebracht: die Nachricht von Susans Tod, die düsteren Warnungen Longfellows, das versöhnliche, aber auch ein bisschen verwirrende Wiedersehen mit Darwin Shaw und jetzt das! Sie war nicht mehr allein auf der Welt. Der Gedanke machte Alex immer noch schwindeln.
    Weil Theo und der Imbiss auf sich warten ließen, widmete sie sich nun doch den Statuen. Sie waren ausnahmslos bleich wie Elfenbein und standen auf kleinen Sockeln desselben Materials. Im Stile antiker Vorbilder, aber mit nur etwa zwei Fuß Höhe wesentlich kleiner, besaß jede ihre ganz eigene Gestalt. Während Alex sich der ersten von links näherte, stutzte sie.
    Die Figur war ein Hermaphrodit.
    Nur von weitem hatte sie wie ein Mann ausgesehen. An dem Sockel befand sich eine rechteckige Fläche, die einem Schild glich, jedoch unbeschriftet war. Alex lief zur zweiten Plastik. Diesmal sah sie eindeutig einen weiblichen Akt vor sich. Nummer drei war ebenso unzweifelhaft ein adonischer Jüngling. Bei der folgenden Figurette erschrak Alex. Sie stand vor einer weiblichen Figur, die sich in zwei Merkmalen auffällig von den vorherigen unterschied: Die Augen der Schönen waren mit einem Tuch verbunden, und an ihrem Sockel stand ein Name.
     
    TERRI
     
    Ein eiskalter Schauer überlief ihren Rücken, als sie zu ahnen begann, was die Figuren darstellen sollten: echte Menschen.
    Echte Hermaphroditen.
    Mit heftig pochendem Herzen schritt sie das Spalier weiter ab. Auf dem nächsten Sockel stand »Ariel«; auch ihre Augen waren verbunden. Bedeutete das, auch sie war tot?
    Auf Ariel folgte Bo. Wieder ein weiblicher Akt. Die Schönheit hatte ihre Hände hinter dem Kopf verschränkt, als wolle sie ihre Brüste besonders vorteilhaft zur Geltung bringen. Alex erinnerte sich, im Mirror-Artikel über das »vielköpfige Zwitter-Phantom« den Namen Bo Johansen gelesen zu haben.
    Dann fand sie Theos Figurette: ein kleiner Herkules, der die Welt auf den Schultern trug.
    Rechts daneben stand wieder ein echter Hermaphrodit. Der Oberkörper bezauberte mit vollendeten weiblichen Proportionen und die Region unterhalb des Bauchnabels mit der Männlichkeit eines antiken Olympioniken. Der Kopf mit dem langen Haar war eher weiblich, das Gesicht ernst, aber wunderschön. Der Name zu Füßen des Figürchens ließ das Herz der Betrachterin einen langen Schlag aussetzen.
     
    ALEX
     
    »Bist du überrascht?«
    Alex fuhr erschrocken herum. In der Tür stand Theo, hinter sich einen Servierwagen mit großen Vorder- und kleinen Hinterrädern. Sie musste vom Anblick ihrer eigenen Statur so gebannt gewesen sein, dass sie sein Kommen nicht bemerkt hatte.
    Mit der Linken auf ihr mineralisches Ebenbild deutend fragte sie erbost: »Was soll das?«
    »Das bist du? Habe ich dich gut getroffen?«
    »Du hast die Figuren gemacht? Wieso?«
    »Weil ich meine Familie immer gerne um mich habe.«
    Verständnislos ließ Alex noch einmal ihren Blick das Spalier abschreiten. Es waren mindestens zwölf Figuretten. Sie schüttelte den Kopf.
    »Das können unmöglich alles unsere Geschwister sein.«
    »Wieso nicht?«
    Alex warf die Hände in die Höhe. »Weil es zu viele sind!«
    Theo lächelte. »Ich denke, dies ist der passende Augenblick, dir ein paar Dinge zu erklären. Aber in deinem eigenen Interesse rate ich dir, dich zu setzen.« Er deutete auf den Stuhl am oberen Ende der gläsernen Tafel.
    Sie durchmaß mit langen Schritten den Salon und nahm Platz.
    Theo legte nicht unbedingt eine große Eile an den Tag, als er den Tisch deckte. Ob Porzellan, Tafelsilber oder Kristallgläser, das Design jeder Einzelheit war von sachlicher Eleganz getragen. Auf

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