Die Galerie der Lügen
außerdem gelungen sein, uns artfremde Genabschnitte einzupflanzen, sonst wäre unser Erbgut zu hundert anstatt nur zu neunundneunzig Komma neun Prozent identisch. Stell dir vor, eine deiner Schwestern leuchtet im Dunkeln wie eine Tiefseequalle.«
Theo biss in ein weiteres Kanapee.
Alex schluckte. »Du meinst, wir sind… Chimären? «
Er zuckte die Achseln. »Anscheinend kennst du dich da besser aus als ich. Was soll das sein?«
»In den Naturwissenschaften bezeichnet man so Lebewesen, die auf nicht natürlichem Wege entstanden sind und Merkmale zweier Arten miteinander vereinen. Die Biologen verstehen darunter einen Organismus mit genetisch voneinander abweichenden Zellen aus zwei unterschiedlichen Zygoten, also befruchteten Eizellen. Vielleicht hast du vom Geep – der Schiege – gehört, die auch eine Chimäre war. Eine Mischung von Schaf und Ziege. Sie wurde Vorjahren in den Staaten gezüchtet.«
»Ich erinnere mich dunkel. Wann war das?«
Sie schob die Unterlippe vor. »So Mitte der 1980er…«
Theo nickte. »Ungefähr die Zeit, in der auch wir zusammengebaut wurden.«
Alex begann nervös an ihrem Nackenhaar herumzuzupfen. »Wenn du im Infrarotbereich sehen kannst und mir Handys Kopfschmerzen bereiten, dann müssen die zugrunde liegenden Genmanipulationen erst nach der Mehrlingsspaltung vorgenommen worden sein. Oder man hat mehrere erfolgreiche Klonexperimente durchgeführt.«
Er lächelte grimmig. »Fängst du langsam an, den Tatsachen ins Auge zu sehen? «
Sie schüttelte den Kopf. »Es ist unfassbar, aber andererseits… Es würde manches erklären, worüber ich mir in den letzten Wochen den Kopf zerbrochen habe. Wie haben sie nur das Problem mit dem Ausschuss hinbekommen?«
»Was meinst du?«
»Ich habe vor vielleicht vier Jahren einen Artikel in Science gelesen, in dem das gescheiterte Klonen von Rhesusaffen beschrieben wurde. Aus weit über siebenhundert behandelten Eizellen, kamen nur knapp hundertfünfzig Embryonen heraus. Alle waren geschädigt. Beim Menschen wäre der › Ausschuss ‹ noch viel größer. Mit den weniger ausgereiften Verfahren vor einem Vierteljahrhundert hätte man vermutlich Tausende von Eizellen gebraucht und Hunderte von Leihmüttern, um mehr zufällig als kontrolliert ein oder zwei erfolgreiche Klonungen zu bewerkstelligen. Die meisten Schwangerschaften wären vorzeitig abgebrochen worden, und von den wenigen Neugeborenen hätten die meisten schwere bis schwerste Missbildungen gehabt. Selbst scheinbar erfolgreiche Tierklone verstarben vorzeitig oder sind extrem krankheitsanfällig. Dir dürfte bekannt sein, dass auch Dolly im Alter von sechs Jahren eingeschläfert werden musste.«
Theos Miene verfinsterte sich zusehends. »Was glaubst du, warum bis heute niemand von uns, den ersten menschlichen Klonen, erfahren hat? Die Eizellen und Leihmütter zu beschaffen war in erster Linie ein logistisches Problem. Die Forscher sind dazu in die so genannte › dritte Welt ‹ gegangen. Da gibt es genug Frauen, die für einen Sklavenlohn ihren Körper zur Verfügung stellen. Und wenn es Missgeburten gibt, dann fällt das in Ländern, wo Umweltschutz ein Fremdwort ist, auch kaum jemandem auf. Auf diese Weise konnte man Erfahrungen sammeln, ehe einige der erfolgversprechenderen Kandidaten in die Gebärmütter europäischer Frauen eingepflanzt wurden.«
»Woraus dann wir entstanden?«
Er nickte.
Alex hatte noch keinen einzigen Happen gegessen, aber ihr war trotzdem übel. Sie trank in einem Zug ihr Glas aus. »Ich dachte, nach den Eugenikprogrammen der Nazis wären die Menschen schlauer geworden. Warum tut jemand so etwas?«
Unter einem faschistischen Regime hätte sie ein solches Projekt vielleicht noch für möglich gehalten, aber nicht in Großbritannien.
Theo schenkte ihr nach. »Einige Wissenschaftler waren von dem Ziel besessen, der Evolution des Menschen zu einem Quantensprung zu verhelfen. Kannst du dir so etwas vorstellen?«
»Nicht in der Praxis, aber theoretisch… Ich habe erst kürzlich einen Artikel über die Ziele des amerikanischen Philosophen und Reformpädagogen John Dewey verfasst. Die Bewegung des › religiösen Humanismus ‹ wurde von ihm gegründet.«
»Sagt mir nichts. «
»Seine Vereinigung hat schon 1933 in ihrem Manifest eine neue Ära des wissenschaftlichen Fortschritts und der sozialen Zusammenarbeit für die Menschen vorhergesagt. Man war dann ziemlich überrascht, als Hitler und Stalin zeigten, welche ungeahnten Möglichkeiten dem Menschen
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