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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Theos Hass schmecken zu können, so intensiv war er. Sie wünschte sich, ihm helfen zu können – aber wie? In beschwichtigendem Ton sagte sie: »Du kannst nicht leugnen, dass sich die Situation für intersexuelle Menschen inzwischen verbessert hat, vor allem hier bei uns in Großbritannien. Man kümmert sich in Expertenzentren um sie und reicht sie nicht mehr herum wie Monstrositäten auf einer Wanderausstellung.«
    »Es gibt immer noch Betonköpfe unter den Medizinern, die lieber schneiden und schweigen, als zu fragen und zu erklären.«
    »Mag sein, aber du hast doch anscheinend deinen Weg gefunden? Du bist jetzt ein Herkules. Wie kam es dazu?«
    Theos Stimme wurde tief, fast bedrohlich. Irgendwann habe er sich gegen den Missbrauch aufgelehnt, erklärte er. Er verweigerte die Sexualhormone und kleidete sich wie ein Junge. Zu der Zeit sei seine Mutter gestorben, und sein Vater habe sich ohnehin schon seit Jahren ganz seiner Arbeit gewidmet. Als er, Theo, dann volljährig wurde, ging er seinen eigenen Weg. Weil man ihm die Weiblichkeit aufgezwungen hatte, verfiel er nun ins andere Extrem. Er wollte ein Mann sein. Jetzt schluckte er wieder Hormone, um dem Wunsch Gestalt zu verleihen. In unzähligen Operationen ließ er sich umbauen. Die Operateure bastelten ihm sogar wieder einen Penis. Aber trotz der Fortschritte in der plastischen Chirurgie war das Ding nur eine Attrappe, kein vollwertiger Ersatz für sein Glied, das man ihm im Säuglingsalter abgeschnitten hatte.
    Das machte ihn zornig, zumal er jedes Mal, wenn die Schmerzen nach den Operationen nachließen, von Zweifeln übermannt wurde. In Wirklichkeit fühlte er sich keinem der beiden Geschlechter zugehörig. Doch er sträubte sich gegen solche Empfindungen. Es hätte ja sein eigenes Versagen bedeutet, das Eingeständnis des irrenden Selbst. Manchmal drohten ihn diese inneren Turbulenzen zu zerreißen.
    Alex nickte. Sie kannte diesen Seelenzustand nur allzu gut. »In meiner Kindheit – ich glaube, ich war zwölf oder so – gab es ein Schlüsselerlebnis. Im Biologieunterricht erklärte uns der Lehrer die Zweigeschlechtlichkeit von Schnecken. Im Klassenraum wurde gekichert. Trotzdem meldete ich mich ganz keck. Damals war ich manchmal ein richtiger kleiner Rüpel, der nichts und niemanden fürchtete. Also fragte ich: › Gibt es bei Menschen auch Zwitter? ‹ Darauf brach schallendes Gelächter aus. Von dem Tag an habe ich das Thema nie mehr in großer Runde angesprochen. Ich wusste, dass ich eine Lachnummer war, die nirgendwo richtig hingehörte.«
    »Mit dem Unterschied, dass kein Messer dir deine Identität gekappt hat«, fügte Theo mit versteinerter Miene hinzu.
    Er tat Alex Leid. Obwohl er nicht unbedingt das war, was man im landläufigen Sinne einen Bruder nannte, teilte sie mit ihm die gleichen Gene! Irgendwie machte ihn das für sie zu einem Verwandten. Sich über den Teller beugend, blickte sie ihm direkt in die Augen. »Du bist du, Theo. Lass dir nichts anderes einreden, weder von den Leuten, die nur gelernt haben, männlich oder weiblich zu denken, noch von dir selbst. Ich muss mir auch immer wieder sagen: › Was ich fühle, stimmt. ‹ Es gibt auch bei mir Tage, da glaube ich dieser inneren Stimme nicht. Das ist auch okay so. Jeder hat ein Recht, deprimiert zu sein. Aber wenn du dir immer wieder klar machst, › lieber mich so als mich gar nicht ‹ , dann wirst du in dir eine Kraft finden, die dich überraschen mag.«
    »Oh, ich habe diese Kraft gespürt, als in mir der Zorn explodierte!«, brach es aus Theo heraus. »Bis heute fühle ich mich, als wollten die jahrelangen Vergewaltigungen kein Ende nehmen. Manchmal komme ich mir vor wie die Verkörperung des Missbrauchs der Natur. Du kannst dir nicht vorstellen, wie ich mich dafür hasse.«
    »Ich verstehe dich besser, als du denkst. Aber nicht du hast dich um dein Geschlecht betrogen, Theo. Es gibt keinen Grund, dich zu hassen, weder für dich selbst noch für andere.«
    »Und ob es den gibt!« Speichel spritzte über den Tisch. Sein Gesicht war rot vor Erregung. »Ich hätte mich früher gegen die Manipulationen wehren sollen, so wie du. Aber mir fehlte der Mumm. Ich habe mich lieber verstümmeln lassen, anstatt meine besondere Natur zu akzeptieren. Oder um es mit Oscar Wilde zu sagen: › Jeder von uns ist sein eigener Teufel, und wir machen uns diese Welt zur Hölle. ‹ «
    Der Zynismus in seiner Stimme war wie ein betäubender Nebel, der Alex benommen machte. Oder lag es am Wein?

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