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Die Galerie der Lügen

Titel: Die Galerie der Lügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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täuschend echten Dekorationsfrüchte, die man im Kaufhaus erstehen konnte, sondern sah eher nach dem Gesellenstück eines Feinblechners aus. Die rotgoldene Oberfläche glänzte zwar wie die Wachsschicht jener Früchte, die man auf dem Wochenmarkt kaufen konnte, vermochte ihre Künstlichkeit aber nicht zu verhehlen. Vielleicht sollte sie es auch gar nicht. »Wieso engen Sie Ihre Sichtweise so ein?«, entgegnete der Engländer.
    »Wie meinen Sie das?«, fragte Stangerl brüskiert. »Wollen Sie etwa auch die übrige Galerie in Augenschein nehmen?«
    »Das wird nicht nötig sein. Ich habe gerade an ein Bild gedacht, das nicht in Österreich hängt – jedenfalls vermute ich das. Nicht einmal auf dem Kontinent.«
    »Und das soll etwas mit unserem verlorenen Paradies zu tun haben?«
    »Es ist zunächst nur eine Hypothese.«
    »Und von welchem Bild reden Sie?«
    »Sie haben bestimmt davon gehört. Bis vor einer Woche hing es noch in London, in der Tate Modern.«
    »Sie meinen den Magritte? Le dormeur témé raire ? «
    Darwin nickte. »Der unachtsame Schläfer. Das Gemälde, auf dem ein Apfel zu sehen ist«, er deutete auf die metallene Frucht, »der genauso aussieht wie dieser hier.«
     
     
    Gegen zwanzig Uhr checkte Darwin im Hotel Maria Theresia ein, das im Künstlerviertel Spittelberg lag, nur wenige Gehminuten vom Museum entfernt. Sein Zimmer befand sich im dritten Stock. Die Einrichtung aus Rattanmöbeln und Plakaten von Friedensreich Hundertwasser nahm er nur am Rande wahr. Seine Gedanken drehten sich um den rotgoldenen Apfel, den er im Museum gesehen hatte. Ihm war dabei eine Idee gekommen, die ihn nicht mehr losließ.
    Er stellte seinen Pilotenkoffer auf die Gepäckablage, entkleidete sich und ging ins Bad, um sich zu erleichtern und zu duschen. Am Morgen war er gegen vier Uhr aufgestanden, weil er vor seiner Abreise noch einmal das Büro im Londoner Bankenviertel hatte aufsuchen müssen. Jetzt, sechzehn Stunden später, schien sein Kopf mit Watte voll gestopft zu sein. Er musste ihn dringend klarbekommen, um seine gewagte Hypothese in allen Einzelzeiten zu durchdenken. Außerdem hatte ihm Professor Stangerl einige Unterlagen ausgehändigt, die es bis zum nächsten Morgen durchzuackern galt.
    Nachdem Darwin abwechselnd heiß und kalt geduscht hatte, fühlte er sich besser. Nur mit dem Badetuch bekleidet machte er sich wieder an die Arbeit. Routiniert ordnete er auf dem Bett die Dokumente, die ihm das Museum und die Wiener Kriminalpolizei überlassen hatten: erste Berichte der Tatortuntersuchung, Zeugenvernehmungen, ergänzende Unterlagen zur Versicherungspolice, die das gestohlene Kunstwerk betrafen, die letzten Prüfprotokolle der Sicherheitstechnik, den Schichtplan des Wachdienstes, Auszüge aus den Personalakten mehrerer Museumsmitarbeiter und vieles mehr. Darwin blickte kaum von den Papieren auf, als er einige Zeit später den Zimmerservice anrief, um sich einen Imbiss zu bestellen. Anschließend vertiefte er sich wieder in die Akten. Gab es irgendwo einen Hinweis, der seine Theorie bestätigte?
    Jedes Mal, wenn er ein Museum oder eine Galerie aufsuchte, die einen Schadensfall gemeldet hatte, sammelte er ähnliches Material. Die wenigsten Kunden waren sich darüber im Klaren, dass ArtCare nicht ihre Kunstwerke schützte, sondern zunächst sich selbst. Ein ehernes Gesetz der Branche lautete: Sei schnell beim Kassieren deiner Prämien, aber prüfe gründlich, ob du die Auszahlung deiner Leistungen vermeiden kannst. Nicht allein Versicherungsbetrug galt es abzuwenden, sondern jegliche Schadensregulierung. Deshalb musste er zunächst nach Fahrlässigkeiten seitens der Versicherungsnehmer fahnden. War die Alarmanlage eingeschaltet? Hatten die Sicherheitsleute ihre Patrouillen nach Plan durchgeführt? Konnten unbefugte Personen Zugang zur beschädigten oder verloren gegangenen Sache erlangen? Gab es irgendwelche anderen Versäumnisse, die ArtCare davor bewahrte, die Versicherungssumme auszuzahlen?
    Darwin versuchte seine Befragungen grundsätzlich so klingen zu lassen, als gehe es seinem Arbeitgeber vordringlich darum, den verloren gegangenen Gegenstand wieder in den Besitz des Versicherungsnehmers zurückzuführen. Immerhin hatte er den Job überhaupt deswegen angenommen. Viele der von ArtCare versicherten Kunstwerke waren einmalige Kulturgüter der Menschheit. Man konnte Leonardo da Vinci nicht bitten, die Mona Lisa erneut zum Lächeln zu bewegen. Aus diesem Grund nahm Darwin den für ArtCare zweitrangigen Teil

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