Die Galerie der Lügen
miteinander an?«
»Ich bringe sie in die Galerie«, antwortete sie betont langsam. »Professor Stangerl erwartet Sie.«
Darwin deutete mit offener Hand zum Stiegenhaus. »Na, dann nichts wie los.«
Die Sekretärin schien froh zu sein, die Führung übernehmen zu dürfen. So musste sie mit dem englischen Gast keine Konversation pflegen.
Vorbei an steinernen Löwen, einem Zentauren, dem gerade der Garaus gemacht wurde, diversen Büsten und anderen Plastiken ging es in den ersten Stock. Hier war eine Gemäldegalerie beheimatet, die weltweiten Ruhm genoss. Und nun auch rund um den Globus für Schlagzeilen sorgte.
Das Museum verdankte dem spektakulären Raub an diesem Dienstag eine wahre Besucherflut, obwohl der Tatort weiträumig abgesperrt war. Allein der Geruch des kapitalen Verbrechens schien Schaulustige anzuziehen wie die Fliegen. Es war jedoch nichts zu sehen, außer ein paar Damen und Herren mit ernsten Gesichtern, die in Uniform und auch in Zivil durch die Ausstellung eilten. Nicht nur der Saal, in dem Cranachs Paradies gehangen hatte, sondern auch die angrenzenden Räume waren für die Öffentlichkeit geschlossen.
Über knarrendes, gelbbraunes Parkett hinweg führte Frau Dobler den Versicherungsdetektiv im Sturmschritt zum Tatort. Am Eingang des Saales erwartete den Gast bereits, wie angekündigt, Direktor Hofrat Professor Dr. Alois Stangerl.
»Wie redet man Sie eigentlich korrekt an?«, fragte Darwin, nachdem Marie Dobler sie einander vorgestellt hatte.
»Professor Stangerl genügt«, antwortete der Museumsleiter und lächelte dabei auf Sparflamme. Er war Anfang fünfzig, eher kleinwüchsig, dafür korpulent, hatte lichtes, graues Haar und eine dickrandige Schildpattbrille. Auf Darwin machte er keinen steiferen Eindruck als die leitenden Angestellten britischer Museen.
»Gut, Professor Stangerl. Dann beginnen wir am besten mit einer Tatortbesichtigung.«
»Soll ich nicht zuerst schildern, wie wir den Raum entdeckt haben?«
»Wenn es Ihnen recht ist, würde ich mir gerne zunächst ganz unvoreingenommen ein Bild machen.«
»Meinetwegen. Bitte folgen Sie mir.«
Stangerl führte den Vertreter des Unternehmens, von dem er eine Entschädigung in Millionenhöhe erwartete, nicht eben begeistert, aber willig in den Saal. Die Polizei hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden ein paar Schildchen mit Nummern aufgestellt, eine dreistellige Zahl von Fotos geschossen und eifrig nach Fingerabdrücken gesucht. All das wusste Darwin bereits. Aber irgendjemand hatte einmal gesagt, Vorstellungskraft sei wichtiger als Wissen. Deshalb suchte er nach dem, was nicht fotografiert werden konnte.
Ungefähr eine Viertelstunde lang bewegte er sich stumm durch den Saal. Ihm ging es nicht darum, die Arbeit der hiesigen Spurensicherung in Frage zu stellen. Die Leute von der Wiener Kriminalpolizei verstanden zweifelsohne ihr Geschäft. Auf den Direktor musste es daher befremdend wirken, dass sich der Ermittler von ArtCare zunächst wie ein ganz normaler Museumsbesucher verhielt und eingehend die ungestohlenen Gemälde im Raum studierte.
»Was tun Sie da?«, brach es dann a uch schließlich aus Stan gerl hervor.
»Ich lade mein Vorstellungsvermögen auf.«
»Sollten Sie nicht lieber die durchgeschnittenen Fäden kontrollieren, an denen das Bild gehangen hat?«
»Dazu müsste ich nicht extra aus London anreisen.«
»Ich kann Ihnen einen Ausstellungskatalog geben«, sagte Stangerl spitz.
Darwin lächelte. »Die meisten Verbrecher sind Lügner. Der einzige Ort, an dem sie die Wahrheit sagen, ist der, an dem sie ihre Tat verüben. Meist treffen sie dort Entscheidungen, die nicht allein durch das Offensichtliche – hier durch den Raub – erklärbar sind. Die Spuren dieser Entscheidungen sind Schlüssel ins wahre Ich des Täters. Sie erschließen uns seine innersten Bedürfnisse.« Er war kein Kriminalpsychologe, aber in der Tatortanalyse konnte er auf einige Erfahrungen verweisen. Während seiner Ausbildung beim SIB hatte er sich zudem einige Grundkenntnisse auf dem Gebiet des Profiling erworben.
Stangerls Blick wischte über die Bilder, ehe er wieder zu dem englischen Detektiv zurückkehrte. »Glauben Sie, jemand hat Das Paradies gestohlen, weil ihm irgendein anderes Bild in diesem Raum gegen den Strich geht? Das ist doch absurd.«
Darwin trat endlich vor die Stelle an der Wand, wo das entwendete Gemälde gehangen hatte. Er ging in die Hocke und betrachtete nachdenklich den am Boden liegenden Apfel. Es war keine jener
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