Die Galerie der Lügen
ertappt hatte, oder aus Zorn über ihre eigene Unbeherrschtheit. »Entschuldige«, sagte sie kleinlaut.
Er langte über den Tisch und drückte ihre Hand. »Ist schon gut, Alex. Es war meine Schuld. Ich habe das Einfühlungsvermögen eines Rammbocks.«
So behutsam wie möglich befreite sie sich aus seinem Griff und faltete unter dem Tresen ihre Hände, damit er ihr Zittern nicht sehen konnte. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Das stimmt nicht, Darwin. Aber manchmal sind wir eben beide ungehobelte Kerle.«
Mit einer Mischung aus Reue und Befriedigung sah sie, wie sich seine Rechte zurückzog.
»Deine Bemerkung über den Coup in München«, nahm er ihren Faden wieder auf, »bezog sich auf die Attrappe, die uns das › Gehirn ‹ in der Alten Pinakothek zurückgelassen hat, oder?«
Sie nickte. »Es hat euch konditioniert. Wie die Pawlow’schen Hunde.«
»Wie bitte?«
»Es war eine Art Blitz-Gehirnwäsche. In München habt ihr ein… Tarnbild gefunden, das in den Überwachungsbildschirmen nicht zu erkennen war. Und weil Menschen schneller lernen als Hunde, habt ihr beim nächsten Raub in Holland gedacht, es sei wieder nur eine Attrappe.«
»Reib nur noch schön Salz in die Wunde«, brummte Darwin.
»Dabei wollte das › Gehirn ‹ dir damit eine neue Botschaft senden.«
»Mir?«
Alex war froh, dass Darwin den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden hatte. Sie nickte. »Dir. Du bist sein Famulus. Lucy hat mir gestern erzählt, was die Medien in der letzten Woche so alles Nettes über dich geschrieben haben. Ich glaube, dem › Gehirn ‹ ist die öffentliche Diskussion um das Für und Wider des Darwinismus nur recht.«
»Und ich bin der Leidtragende. Ziemlich miese Botschaft.«
»Der Medienrummel ist seine Bühne. Was er uns sagen will, passt sich nahtlos in die Galerie der Lügen ein: Er hat eine Fälschung benutzt, um eine Scheinwahrheit zu erschaffen, genau wie Haeckel.«
»War das der mit dem Piltdown-Menschen?«
»Nein, der mit dem biogenetischen Grundgesetz.«
Darwin kämmte sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich fürchte, mein Schulwissen stößt gerade wieder einmal an seine Grenzen.«
»Das glaube ich nicht. Du erinnerst dich doch bestimmt noch an den Lehrer oder die Lehrerin, die mit ernster Miene verkündeten, der Mensch durchlaufe zwischen Zeugung und Geburt alle wichtigen Stufen der Evolution.«
»Sicher. Erst ist er ein Fisch, dann ein Amphibium und so weiter.«
Alex nickte. »Vereinfacht ausgedrückt, verbirgt sich dahinter Ernst Haeckels biogenetisches Grundgesetz. Damit hat der Deutsche dem Darwinismus zum Siegeszug verholfen. Es war sein wichtigstes › Beweisstück ‹ . Bedauerlicherweise ist es eine Camouflage – genauso wie der Bowler im Kröller-Müller-Museum.«
»Jetzt komm! Ich habe doch erst vor – wann war das? – drei Jahren diesen Dokumentarfilm gesehen. Wie hieß er gleich? Genesis… ? Ja, das war der Name. Da haben die genau das gesagt: Als sich unsere Körper selbst erfanden, sahen Küken-, Krokodil- und Menschenembryos alle gleich aus – oder so ähnlich.«
»Ich habe den Streifen gesehen. Wunderbare Naturaufnahmen und das geheimnisvolle Geschwafel eines Medizinmannes. Nette Idee, dem Publikum die Wahrheit als Summe aus Esoterik und Evolution zu präsentieren. Wie sagte der Schamane im Film so schön? › Vom Augenblick meiner Zeugung bis zu meiner Geburt habe ich die Geschichte der Genesis im Zeitraffer gelebt ‹ – die gleiche Lüge mal ganz anders präsentiert. Solche so genannten Dokumentationen sind meiner Meinung nach eine beeindruckende Bestätigung der Haeckel’schen Praxis: durch suggestive Bilder den Anschein von Glaubwürdigkeit zu erwecken.«
Darwin wirkte verunsichert. »Ist das tatsächlich wahr, das mit dem deutschen Naturforscher, meine ich?«
Alex nickte. »Ernst Haeckel hat 1908 in der Berliner Volk s zeitung zugegeben, dass seine › zahlreichen Embryonenbilder wirklich »gefälscht« ‹ sind. Na ja, mit dem Wort › gefälscht ‹ tat er sich ein bisschen schwer. Später wollte er sein Geständnis nur noch › ironisch ‹ verstanden wissen. Aber davon unbenommen ist die biogenetische Grundregel seit langem widerlegt. Allein die Arbeiten des deutschen Anatomen Erich Blechschmidt sowie seine › Humanembryologische Dokumentationssammlung ‹ sind ein vernichtender Faktenbeleg gegen Haeckels Hypothese. Blechschmidt machte klar, wir entwickeln uns nicht zum Menschen, sondern wir sind von vornherein individuelle Menschen. Vom Augenblick der
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