Die Gamant-Chroniken 03 - Die Prophezeiung von Horeb
angesichts der prachtvollen Einrichtung regelrecht die Augen übergegangen. Selbst heute noch verschlug es Sybil manchmal den Atem. Sie hatten das Zimmer lediglich gesäubert, es ansonsten aber so belassen, wie sie es vorgefunden hatten. Noch immer beunruhigte Sybil allerdings der Gedanke an die hinter den Tischen und Wandteppichen versteckten Nischen, in denen noch alte Vorräte an Lebensmitteln und Munition gelagert waren. Was hatte König Edom nur so sehr gefürchtet? Etwas ebenso Bösartiges und Heimtückisches wie jetzt Sybil? Hatte er einen Gegner gehabt, der so gefährlich war wie Ornias?
Mikael brach die Stimme, als er leise sagte: »Salome berichtet, ihr Onkel hätte eine Funknachricht mit dem versteckten Hinweis aufgefangen, der Untergrund plane möglicherweise eine Rettungsaktion auf Horeb.«
Sybil verstärkte ihre Umarmung. Sicher wollte er damit doch nicht vorschlagen, sie sollten die Köpfe einziehen und abwarten? »Vielleicht kommt es auch nie dazu. Jedenfalls müssen wir Ornias’ Palast sofort angreifen. Er hat beim letzten Kampf zu viele von unseren Leuten geschnappt. Und wir können Sira doch nicht …«
»Ich weiß, Sybil. Ich bin nur müde. Verzeih.« Mikael streichelte ihr sanft den Arm. »Es ist nur so, daß unsere tausend Männer, Frauen und Kinder eine erbärmliche Handvoll sind im Vergleich zu Ornias’ fünfundzwanzigtausend ausgebildeten magistratischen Soldaten. Außerdem … gibt es noch Gerüchte, wonach Slothen einen weiteren Schlachtkreuzer nach Horeb entsenden will. Und zwar nicht als ›friedensschaffende Maßnahme‹«, meinte er spöttisch, denn es war allgemein bekannt, daß die vier Kreuzer, die Horeb zur Zeit umkreisten, ihre Aktivitäten darauf beschränkten, Diplomaten zu befördern und Lebensmittel an Bord zu nehmen. »Angeblich schicken sie das Schiff, um Ornias bei seinen militärischen Aktionen gegen uns direkt zu unterstützen.«
Sybil setzte sich aufrecht hin und blickte ihn voller Furcht an. »Warum sollte Slothen uns plötzlich für so wichtig halten? In den letzten zehn Jahren bestand seine einzige Maßnahme gegen uns doch darin, alle Gamanten zu entführen, deren er habhaft werden konnte, und sie an einen unbekannten Ort zu bringen.«
Mikaels Miene drückte seine Besorgnis deutlich aus. »Es ist fast so, als hätte er die Geschichten über die Ankunft des Mashiah gehört und …«
»Glaubst du, das würde ihn kümmern? Wieso denn? Gamantische Legenden sind für Giclasianer ohne jede Bedeutung.«
Mikael schüttelte unsicher den Kopf. »Vielleicht, aber sicher können wir dessen nicht sein. Auch von einem rein militärischen Standpunkt aus müßte er die Auswirkungen in Betracht ziehen, die das Auftreten des Mashiah auf die Gamanten haben dürfte. An seiner Stelle würde ich alles unternehmen, um dieses Ereignis zu verhindern.« In einer Geste verzweifelter Hoffnung streckte er die Hand aus und legte sie auf Sybils geschwollenen Leib. Dann schloß er die Augen, und an der Bewegung seiner Lippen erkannte sie, daß er stumm ein Gebet sprach. Schließlich zog er das Mea unter der Decke hervor und ließ es wie ein Pendel schwingen. Die leuchtende blaue Kugel an der goldenen Kette war jahrhundertelang als das heilige Tor verehrt worden, das es den heiligen Männern des gamantisches Volkes erlaubte, direkt mit Epagael zu sprechen. »Ich wollte, wir hätten Hilfe, Sybil. Irgendeine Hilfe! Den Untergrund, Gott, Metatron …«
In den ersten zwei Jahren nach ihrer Rückkehr nach Horeb war Mikael fast jede Nacht in Schweiß gebadet aufgewacht und hatte nach Metatron gerufen, auch wenn er jetzt nur noch selten darüber sprach. Der Engel, der Mikael in dessen Jugend geleitet hatte, war nicht mehr erschienen, nachdem sie Horeb erreicht hatten – beinahe so, als wäre dieser Planet die Hölle, zu der Engel nicht hinabsteigen konnten. Sybil vermutete, daß Mikael glaubte, Gott hätte ihn eines Fehlers wegen verlassen. Aber das konnte nicht sein. Mikael hatte immer sein Bestes gegeben.
Sybil ergriff das Mea und legte es auf Mikaels Stirn. Dann beugte sie sich über ihn, bis ihre Stirn die Kugel berührte, und küßte ihn. Mikaels Augen leuchteten verständnisvoll. Vor langer Zeit hatte Sybil in einem Traum gesehen, wie sie eben dies taten – sie hatten auf einem grasbewachsenen Hügel gestanden und auf ein blutiges Schlachtfeld hinabgeblickt. Männer und Frauen hatten vor Schmerz geschrien, als sie unter den purpurnen Strahlen der Schiffe starben, die durch den gelben
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