Die Gamant-Chroniken 03 - Die Prophezeiung von Horeb
Boden und weinte noch lauter.
Sybils Finger verkrampften sich um das Gewehr. Sie glaubte, die Wache lachen zu hören. »Lach ruhig, du Dreckskerl. In einer Stunde bist du tot.«
Ein merkwürdiges Zittern durchlief Sybils Bauch, beinahe so, als hätte ihr Sohn alles miterlebt und würde jetzt vor Kummer und Schmerz weinen.
Sybil behielt den Finger am Abzug und griff mit der linken Hand nach unten, um beruhigend über ihren Bauch zu streicheln. »Es ist alles in Ordnung«, flüsterte sie. »Mach dir keine Sorgen, Nathan. Schon sehr bald verlassen wir diesen Ort. Wir ziehen hinaus, um das Große Tor zu suchen. Wir werden die nackte Singularität finden, und dann gehen wir durch sie hindurch in einen endlosen Ozean des Friedens und der Ruhe. Das hat mir dein Vater erzählt, buzina. Ich weiß, daß es wahr ist, denn ein Engel namens Metatron hat ihm das gesagt. Und deine Großmutter … Mama hat das Große Tor ebenfalls erwähnt, damals, vor langer Zeit, als sie dachte, ich würde es noch nicht verstehen.«
Sybil legte ihre Hand wieder um den Schaft des Gewehrs. Die Gedanken an ihre Mutter belasteten sie. Als Rachel sie damals auf Palaia besucht hatte, war sie anders gewesen als sonst, hatte oft ohne erkennbaren Anlaß geweint, mit sich selbst gesprochen oder mit den Fäusten auf die Wände eingeschlagen, bis ihre Knöchel bluteten. Sybil erinnerte sich daran, daß sie am liebsten davongelaufen wäre vor dieser Fremden, die wie ihre Mutter aussah.
Ein paar Lichtstreifen fielen durch die Wolken und beschienen Teile des Meeres, die dunkelrot aufleuchteten. Das Meer des Blutes war entstanden, als Captain Tahn Horeb angriff. Unter dem Feuer der Strahlenkanonen waren die roten Felsen der Wüste zu glasigen Seen zerschmolzen.
Sybil zuckte zusammen, als ein Schrei die Stille zerriß. Er hörte sich an wie die Klage einer Todesfee, die vom Wind herangetragen wurde. Sybil erstarrte für einen Sekundenbruchteil, beugte sich dann über das Gewehr und starrte in die Zielvorrichtung. Ein Trupp rotgekleideter magistratischer Soldaten trieb sechs Mitglieder von Marcus’ Gruppe vor sich her; die Gefangenen hatten die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Sybil hielt den Atem an und zählte stumm bis zehn.
Eine feurige Apokalypse brach über der Stadt los.
Die gamantischen Gefangenen ließen sich zu Boden fallen und nutzten den Vorteil der Überraschung, indem sie um sich traten und versuchten, ihre Wächter in einen Nahkampf zu verwickeln und ihnen die Waffen aus den Händen zu schlagen. Gewehrschüsse zerrissen den Himmel. Daras Gruppe brach aus den Felsterrassen rings um den Gouverneurspalast hervor und stürmte das Haupttor, um die Bewacher der Kinder abzulenken. Gleichzeitig rannten Shoshis Leute auf die Kinder zu und trieben sie als kreischende Woge vor sich her, während Mikaels Trupp für Flankendeckung sorgte.
Als Sybil sah, wie sich Mikaels und Shoshis Leute ohne einen einzigen Verlust zurückzogen, glaubte sie, ihr Herz würde vor Freude zerspringen. Doch sie bewahrte Ruhe, zählte die Toten, die im Palastgarten lagen und fragte sich, welche ihrer Freunde heute nacht trauern würden.
Ein leises Summen drang an ihre Ohren. Erschrocken schaute sie hoch und sah ein Dutzend Schiffe, die wie geisterhafte Dolche aus dem wolkenverhangenen Himmel herabstürzten. Sybil beugte sich vor, feuerte ihre Warnschüsse ab und beobachtete, wie die Schiffe Kurs auf Mikael und Shoshi nahmen und dabei schossen, um ihnen den Weg abzuschneiden. Mikael erwiderte das Feuer, um seinen Leuten die Möglichkeit zu geben, die Felsen zu erreichen.
»Nein! Nein, Mikael! Lauf!«
Sybil packte das Gewehr und kroch aus ihrem Versteck heraus, wobei ihre Füße immer wieder auf dem nassen Sandstein ausglitten. Sie sah, wie Mikael sich auf die Knie fallen ließ, als zwei Dutzend magistratische Soldaten aus dem Unterholz brachen und ihn umringten. Warum hatten sie ihn nicht getötet? Sybil rannte so schnell sie konnte. Als sie in Schußweite war, ließ sie sich auf ein Knie sinken und stemmte ihr Gewehr gegen die hochgezogene Schulter. Sie spähte durch die Zieleinrichtung, stellte das Gewehr auf breite Fächerung und feuerte einen Schuß nach dem anderen ab. Die in Purpur gekleideten Feinde starben unter ihren Schüssen, während Mikaels Gruppe sich kämpfend zurückzog.
Purpurne Strahlen schlugen rings um Sybil ein und zerschmetterten die Felsen. Sybil feuerte weiter, um Mikaels Rückzug zu decken. Irgend etwas schlug gegen ihre Schulter. Sie fiel nach
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