Die Gassen von Marseille
für mich sind sie es … Heute muss ich hingehen und mit ihnen reden … Gerade heute, ich bin erlöst … Jetzt können sie in Frieden ruhen. Holst du vorher noch deine Katzen?«
»Ja, ich bin gleich da. Wie kommen Sie denn nach Saint-Pierre?«
»Mit der Straßenbahn … Ich lasse mich in diesem Urzeitvehikel plattdrücken.«
»Warum nehmen Sie denn kein Taxi?«
»Wie sollte ich?«, fragt sie empört. »Von meiner winzigen Rente kann ich mir doch kaum was zu essen leisten!«
Sie seufzt.
»Die Regierung ist ein bisschen geizig, wenn es um die Alten geht, weißt du?«
»Nicht nur in dieser Hinsicht«, stimme ich ihr zu. »Die Regierung bestiehlt uns, wo sie nur kann!«
»Und wovon soll ich dann deiner Meinung nach ein Taxi bezahlen?«
Esther hat die Katzen im cafoutchi untergebracht, der winzigen, fensterlosen Kammer, in der sie ihre Wintersachen lagert. Sie gibt mir ein kleines Becken und Sägemehl für die Katzenmutter mit.
»Die Kleinen machen ihr Geschäft noch nicht. Komisch, ich hatte sie nur ein paar Stunden bei mir, und schon habe ich mich richtig an sie gewöhnt … Vor allem an die kleine Rote …«
»Ich könnte das Kätzchen für Sie reservieren«, necke ich sie. »Überhaupt kein Problem …«
»Gott bewahre, du willst mich wohl umbringen, niston? Eine Katze in meinem Alter! Und dann auch noch eine rote!«
Wir lachen. Ich trage die Kätzchen in einem Karton nach oben. Die kleine Familie miaut um die Wette. Die Katze folgt mir besorgt und äußert ihren Unmut über den ganzen Trubel. Ich bringe sie alle wieder dort unter, wo die Kleinen geboren sind: auf dem Pullover, den ihre Mutter mir geklaut hat und an dem noch ihr Geruch haftet.
Das ist schon besser.
Als Erstes putzt die Katze energisch ihre Jungen. Schließlich sind sie angefasst worden, sie riechen nach Fremden … Während ihre Frau Mama die an ihnen haftenden Gerüche ausmerzt, fangen die Kleinen an zu quäken. Als sie die von Milch prallen Zitzen gefunden haben, stürzen sie sich gierig darauf.
Obwohl ich mehrere Tassen Kaffee getrunken habe, ist mir vor Müdigkeit ein wenig schwindlig … Ich muss mich wieder hinlegen. Das Schlafmittel, das mir der Doktor verpasst hat, ist sicher noch nicht ganz aus meinem Organismus verschwunden.
Kaum habe ich die Augen geschlossen, schlafe ich auch schon ein.
Flecken vor meinen Augen. Rot.
Plopp, plopp, plopp.
Wie Kugeln aus einem Schalldämpfer. Eine Stimme flüstert mir ins Ohr: »Die Wissenschaft, der Fortschritt, das ist fantastisch … Man hört die Schüsse gar nicht mehr … Nur noch plopp, plopp, plopp …«
Ich fühle mich leicht, immer leichter. Mager, kahl rasiert, in einem blau-weiß gestreiften Pyjama.
Es regnet.
Ich gehe neben Juliette her, aber es ist nicht Juliette … oder, besser gesagt, es ist die Juliette der letzten Tage. Hart, verschlossen, in ihren Drogenfantasien gefangen, auf die Schmerzen ihres gemarterten Körpers horchend. Sie sieht mich nicht mehr … Ich kann nicht sagen, was sie sieht. Unsere nackten Füße auf dem Asphalt machen »plopp, plopp, plopp«.
Ich denke an Nougaro, an seinen Stepptanz im Regen …
Entsetzt bemerke ich, dass der heftige Regen die Haut vom Gesicht meiner armen Liebsten reißt. Bald ist sie ganz verschwunden.
Darunter das nackte, rote Fleisch … Juliette sagt nichts. Sie betrachtet mich ruhig, scheint zu fragen: »Was willst du jetzt tun? Was kannst du tun?«
Nur ihre Augen sind noch unversehrt. Auf dem Kopf trägt sie einen spitzen Hut aus Stacheldraht. Es ist so weit … jetzt fällt der Regen auch auf ihre Augen, die sich vergrößern, verändern, genauso rot werden wie der Rest ihres Gesichts.
»Juliette!«, rufe ich. »Komm aus diesem Säureregen raus …«
Sie rührt sich nicht. Jetzt sind ihre Augen vollständig verschleiert, blind, tot. Da hört der Regen plötzlich auf. Die Sonne kehrt auf das Gesicht meiner Frau zurück. Es ist eine Maske, aber trotzdem erkennt man Leben unter der Oberfläche. Das nackte Fleisch pocht wie ein Herz.
Ich höre den rauen Schrei einer Möwe. Der riesige Schatten des Vogels gleitet über uns hinweg. Sein Flug beschert uns einen frischen Luftzug, ein fröhliches Lied, ein zärtliches Pfeifen. Es ist nicht das übliche sarkastische Kreischen dieser Vögel. Nein! In Zeitlupe verändert sich der Schatten wie durch Zauberhand … Eine andere Frau erscheint in dem gequälten Gesicht. Ich kenne dieses neue Wesen nicht, ich habe es noch nie gesehen. Und trotzdem … Irgendwo in meinen
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