Die Gassen von Marseille
wir alle drei über seine Schulter. Das Foto zeigt eine Gruppe von Männern auf den Stufen des Rathauses. Im Vordergrund schüttelt ein deutscher Offizier einem dunklen, schlanken Mann in einem langen, pelzbesetzten Mantel die Hand.
In der anderen Hand hält der Mann eine Zigarettenspitze. Der Offizier steht kerzengerade da und schaut ihn mit herablassendem Lächeln an. Im Hintergrund beobachten drei weitere Personen aufmerksam die Szene.
»Was für ein hübsches Familienfoto!«, bemerkt Philippe.
Er tippt mehrmals auf das Bild und nennt dabei den Namen der Protagonisten.
»Messieurs, darf ich Ihnen vorstellen … Der mächtigste Marseiller Politiker während der Besatzung. Und zugleich der korrupteste … Sabiani! Beim Händeschütteln mit einem Nazioffizier … Dahinter …«
Er stößt einen erstaunten Pfiff aus.
»Eh bé … Stellt Euch vor, dahinter stehen Laurel und Hardy der damaligen Zeit … Ganoven, wie Marseille sie selten erlebt hat. Spirito und Carbone … Und daneben in der Ecke, das ist … Überraschung … Auguste Roussel!«
Lange sagt keiner ein Wort. Dann ergänzt Schiller: »Der Major, dem Sabiani da die Hand schüttelt, heißt Mühler. Ihm unterstand die SS in der Region Marseille in den Jahren 1942-1943.«
Wir schauen den jungen Inspektor verwundert an.
»Ja, Geschichte ist mein Hobby. Ich interessiere mich nun mal für die Zeit der Besatzung in Marseille während des Zweiten Weltkriegs.«
Er tippt auf das Foto.
»Um wieder auf Sabiani zurückzukommen, der hat eine triste Vergangenheit … Als Held des Ersten Weltkriegs beginnt er seine politische Laufbahn in der kommunistischen Partei … Um dann als einer der aktivsten Kollaborateure zu enden. Seit 1930 propagiert er eifrig ein ›sauberes Marseille‹ … Er gründet die Zeitung Marseille Libre. Seine Freundschaft mit den beiden Ganoven Spirito und Carbone ist legendär. Als sie in die Stavisky-Affäre verwickelt werden, wirft sich Sabiani für sie in die Bresche und lässt an allen Mauern der Stadt Plakate aufhängen, auf denen er verkündet: ›Ich werde nicht dulden, dass man ihnen auch nur ein Haar krümmt.‹«
»Du hattest recht … Es hat tatsächlich mit dem Krieg zu tun. Aber wer sind noch mal Spirito und Carbone? Zwei Verbrecher, nicht wahr?«
Diesmal antwortet der Kommissar.
»Hast du den Film ›Borsalino‹ gesehen? Mit Belmondo und Delon? Das ist ihre Geschichte … Zwei populistische nervis, die eine Marionette – Sabiani – ins Rathaus gehievt haben und selbst im Hintergrund die Fäden zogen … Eine feine Gesellschaft! Aber Inspektor Schiller kann uns sicher mehr darüber erzählen.«
Der Kommissar sieht seinen Kollegen an. Dieser fährt fort: »Carbone und Spirito … Sie haben Marseille systematisch ausgeplündert … das aber hinter einer ordentlichen Fassade, der Vorderseite der Medaille … Albert Einstein hat im Sommer achtunddreißig sogar eine Kreuzfahrt auf Carbones Yacht gemacht … Mutige Männer übrigens. 1938, beim Brand in den Nouvelles Galeries, der Marseille die Freiheit kostet, retten sie heldenhaft zwei Frauen aus dem brennenden Gebäude … Die Marquise de Crussol und Cora Madou, eine bekannte Sängerin. Natürlich ging in der Stadt das Gerücht, dass sie womöglich nicht bloß zufällig dort waren. Und dass sie beim Feuer ein wenig nachgeholfen hätten … Es soll um Schutzgelderpressung gegangen sein … Denn die Kehrseite der Medaille sieht ganz anders aus: Frauenhandel, Opium, Zigarettenschmuggel, Waffenschiebereien … Sogar Parmesan sollen sie geschmuggelt haben … Aber offiziell werden sie lediglich mit der Stavisky-Affäre und dem Mord am Abgeordneten Prince in Verbindung gebracht … Schließlich beenden die beiden Männer, genau wie Sabiani, ihre Laufbahn in der Kollaboration, als Gehilfen der Gestapo …«
»Und was ist aus ihnen geworden?«, frage ich.
»Carbone ist im Dezember 1943 bei einem Zugunglück ums Leben gekommen«, antwortet der Inspektor mit bitterer Stimme. »Seine Beerdigung in Paris war ein riesiges Spektakel … Tino Rossi hat vor einer gewaltigen Menschenmenge an seinem Grab das Ave Maria gesungen … Spirito war erst im Exil in Kanada und ist anschließend in seinem Bett in Sausset-les-Pins gestorben … Sabiani wurde in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Er floh nach Buenos Aires und anschließend nach Spanien, wo er 1963 starb.«
»Und zu guter Letzt stirbt Auguste Roussel in seiner Villa in Rôve, weil ihm jemand einen nicht identifizierten stumpfen
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