Die Gauklerin von Kaltenberg
Euch, dass Ihr auch als Kanoniker zu Demut und Bescheidenheit verpflichtet seid.« Er wandte sich wie der an Anna. »Warum schickte Falconet dich?«
Anna entschloss sich, die Wahrheit zu sagen. Ihre Lippen bebten, als sie von dem geheimnisvollen Lied berichtete. Seit damals im Rittersaal von Kaltenberg hatte sie es nicht mehr gesungen, aber die Worte kamen ihr so lebhaft über die Lippen, als wären sie ein Teil von ihr. Sie erinnerte sich an jeden Augenblick im Verlies und als man sie in den Fluss stieß. Ihre Kehle war wie zuge schnürt,aber sie brachte es zu Ende. »Jemand sagte, der Mann, der das geschrieben hat, sei von hier gewesen«, schloss sie. Voller Erwartung sah sie den Propst an.
Der Propst zögerte. »Ich fürchte, ich werde dir nicht helfen kön nen, mein Kind«, sagte er. Doch seine Stimme schwankte, und er sah sie nicht an.
»Aber Herr Lukas …«, mischte sich Barnabas ein.
»Herr Lukas ist alt und verwirrt«, lächelte der Propst. »Er ver wechselt Geschichten aus seiner Jugend mit der Gegenwart und Heiligenlegenden. Ich fürchte, wir werden ihn noch diesen Win ter begraben müssen.«
»Kann ich ihn sprechen?«, fragte Anna, entschlossen, sich nicht abweisen zu lassen.
Der Propst setzte eine salbungsvolle Miene auf. »Die Kranken station eines Klosters ist wohl kaum der richtige Ort für ein Mäd chen. Die Patienten brauchen Ruhe, es wäre ein schlechter Dienst, ihnen eine Frau ans Bett zu setzen.« Er bemerkte ihre Enttäu schung. »Es wäre besser für dich, du hättest nie lesen gelernt«, be merkte er väterlich. »Eine Frau kann durch so etwas leicht in ih rem Glauben verunsichert werden.«
»Es geht mir nicht um Glaubensfragen«, erwiderte Anna hef tig. »Man wollte mich wegen dieses Liedes umbringen!«
Ihr Ton schien ihm zu missfallen. »Kümmere dich lieber um dein Seelenheil als um deine Haut«, fuhr er sie an. Sein edles Ge sicht mit der markanten Nase war unnahbar. Er wusste etwas, aber er würde es nicht sagen.
Wenn man ihn in den Lech geworfen hätte, würde er anders reden, dachte Anna, aber sie sprach es nicht aus. Stattdessen er widerte sie ruhig: »Verzeiht, hochwürdigster Herr Propst, wenn ich etwas Unschickliches gefragt habe. Ihr wisst ja, wir Frauen sind von Natur aus anfällig für das Böse. Ich versuche nur zu bereuen und nicht wieder zu sündigen.«
Sie hatte die Lider schamhaft gesenkt. Ihre scheinbare Demut besänftigteden Propst. Anna war dankbar, dass sie jahrelang in Gesellschaft eines davongelaufenen Mönchs gereist war. Steffen hatte sie regelmäßig mit den besten Hassreden der Theologen gegen das Weib versorgt. Nur bisher hatte sie nicht geglaubt, dass sie zu irgendetwas nützlich sein könnten.
»Das Lied, von dem du sprichst, ist alt«, sagte der Propst end lich. »Viel älter, als ein Mensch werden kann. Der Mann, der es geschrieben hat, kann nicht mehr für dich bürgen. Er ist tot.«
Er hob die Hand zum Zeichen, dass die Audienz beendet war.
Fassungslos starrte Anna ihm nach. Mit einem einzigen Satz hatte er ihre ganze Hoffnung zerstört. Sie brauchte einige Herz schläge lang, um zu begreifen, was es bedeutete: Niemand konnte ihr helfen, zu Ulrich nach Kaltenberg zurückzugehen. Niemand.
11
»Warte! «
Anna, die in den Hof hinausgetreten war, blieb stehen. Der dicke Sekretär des Propstes drückte sich hinter ihr ins Freie. Wie um sich zu vergewissern, dass es niemand bemerkte, blickte er sich um und kam ihr nachgerannt. Sichtlich angestrengt von dem kurzen Lauf wischte er sich die Stirn.
»Du kanntest Falconet?«, brachte er hervor.
Liebevoll bejahte sie. Nach so langer Zeit fehlte ihr der Gauk ler noch immer.
»Man sagt viel Schlechtes über das fahrende Volk. Aber er war ein guter Mensch.« Barnabas kam wieder zu Atem und grinste, als mache ihm die Erinnerung Spaß. »Damals, als er hier war, haben wir jungen Novizen heimlich mit ihm getrunken und gesungen. Unser Bibliothekar hatte diese Eigenart, beim Blättern die Finger so ko misch zu halten …«, er versuchte es zu zeigen, »als ob er Harfe spie len würde. Niemand konnte ihn so gut nachmachen wie Falconet.«
Das passte zu ihm! »Aber ohne Wein ging bei ihm gar nichts«, ergänzte sie. Sie sahen sich an, und beide mussten lachen.
»Einmal hat uns der Novizenmeister erwischt«, seufzte Barna bas. »Das gab ein Donnerwetter! Zwei Wochen lang lagen wir auf den Knien, bis wir alles abgebüßt hatten.«
Ich bin also nicht die Einzige, die durch die Lieder dieses alten Schlitzohrs in
Weitere Kostenlose Bücher