Die Gauklerin von Kaltenberg
Schwierigkeiten gerät, dachte Anna. Es war ein gu tes Gefühl, fast, als wären sie Verbündete.
»Jedenfalls stammt das Blatt aus unserer Bibliothek. Das Buch war nur schlecht geheftet. Als Falconet hier war, wurde es gerade neu gebunden. Da hat er das Blatt wohl mitgehen lassen.«
Barnabaszog sie ein Stück unter das vorstehende Dach des Kel terhauses. Von drinnen hörten sie gedämpft das Stampfen und die Gespräche. »Herr Lukas war unser bester Buchmaler, ehe er krank wurde. Er hat damit geprotzt, dass sein alter Lehrer die Bilder zu den Carmina gemalt hätte. Das muss aber eine Ewigkeit her sein. Der Mann kann unmöglich noch leben.«
Dann hatte der Propst recht, dachte Anna. Die Enttäuschung schnürte ihr die Kehle zu. »Was war das für ein Lehrer?«
»Weiß nicht.« Barnabas zuckte die Achseln. »Ich glaube, er kam aus Maria Saal, in Kärnten. Das ist eins unsrer Bruderhäuser.«
Das lag ja am Ende der Welt, dachte Anna verzweifelt. Warum nicht gleich in Jerusalem? »Wer hat das Buch eigentlich schreiben lassen?«, fragte sie.
Barnabas lachte. »Wenn ich das wüsste! Aber ich bin für die Buchhaltung zuständig, und ich kann dir sagen, dass die Grafen von Tirol schon immer eifrige Stifter für unser Kloster waren. Ich rate dir, sperr die Ohren auf, wenn Graf Heinrich kommt«, sagte er. »Um Neujahr herum feiern die Chorknaben und Subdiakone ihre Feste. Wenn erst einmal genug Wein geflossen ist, wird viel zum Besten gegeben, was sie am Tisch ihrer Herren gehört ha ben.«
Von drinnen rief jemand seinen Namen. Barnabas zog den Kopf ein. »Der hochwürdigste Herr Propst. Ich weiß gar nicht, was heute in ihn gefahren ist. Sonst hat er immer ein offenes Ohr für die Dinge der Welt.« Er lief zur Tür.
»Danke!«, rief Anna ihm nach. Er nickte, dann war er ver schwunden.
Der Winter kam früh in den Bergen. Wie ein Schiff schien Kloster Neustift völlig abgeschnitten von der Außenwelt. Nur noch selten kamen Reisende mit Nachrichten. Schneeverwehungen bedeckten die Straßen und türmten sich an den Klostermauern zu Dünen, von denen glitzernder Staub wehte. Jeden Tag wurde der Graf von Tirolerwartet. In seinem Gefolge würde der Spielmann sein, von dem Raoul gesprochen hatte. Anna hatte Raoul gebeten, sie dann mit ihm bekannt zu machen. Vielleicht würde dieser Freudenreich ihr helfen können.
In der Brückentaverne am Eisack herrschte Festtagsstimmung. Eine ziemlich fröhliche Pilgergruppe machte Rast in Neustift. Da sie ohnehin büßen mussten, taten sie alles, damit es sich auch lohnte. Und wer nicht selbst auf Wallfahrt war, unterstützte sie nach Kräften in ihrem frommen Eifer und leistete ihnen bei Spiel, Suff und Hurerei Gesellschaft.
»Wein her!«, brüllte ein riesiger Kerl und zog das Schankmäd chen auf seinen Schoß. In dem gewölbeartigen Bau übertönte er sogar noch die Flöten der Gaukler.
Den Humpen in der Hand, tanzte Anna mit halbgeschlossenen Augen durch die Menschen. Es war brechend voll und die Luft zum Schneiden. Weintrauben hingen von der Decke, an den Ti schen saßen Mönche mit schweißglänzenden Tonsuren und Pil ger in härenen Gewändern. Ein Ritter hatte offenbar solche Angst vor Beutelschneidern, dass er seinen teuren Plattenrock selbst hier nicht ablegte. Am Boden hockten die lichtscheueren Gestalten und würfelten, was das Zeug hielt: Bettler mit verkrümmten Gliedmaßen, Leibeigene auf der Flucht vor einem brutalen Herrn, vielleicht auch Verbrecher, die dem Gesetz entkommen waren. Raoul war noch nicht hier, und sie war froh darüber.
Sie kam aus der Scheune herüber, wo er ihr beinahe täglich beibrachte, mit den Waffen umzugehen. Die gleichförmigen, fast rhythmischen Bewegungen gaben ihr das Gefühl, wieder in ihrem Körper zu Hause zu sein. Obwohl sie oft völlig erschöpft war und jeder Muskel schmerzte, ging sie danach aufrechter. Aber vorhin hatten sich ihre Hände wieder berührt. Sie hatte ihre schnell zurückgezogen, trotzdem konnte sie sich jetzt nicht genug verausgaben. Der Tanzboden vibrierte von den stampfenden Füßen, erhitzt flogen ihr die roten Locken ins Gesicht. Unterdrückung, Sorgenund Trauer lösten sich in den schrillen juchzenden Schreien. Auch dieses verwirrende Gefühl konnte man hier hinausschreien. Anna warf den Kopf in den Nacken und jodelte ungehemmt mit den anderen mit.
Ein blonder Bursche umarmte sie überschwänglich. Er hielt sie an den Hüften, dass ihr Kleid über die Knie flog und sie ihr Bier verschüttete. Kreischend ließ
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