Die Gauklerin von Kaltenberg
Anderthalbhänder hoch, ohne sein Gewicht zu spüren. Die Klinge stieß senkrecht her ab und fuhr knirschend in den steinhart gefrorenen Grund. Keu chend kniete Raoul nieder und legte die Stirn an den Schwertgriff.
Seine Brust hob und senkte sich schmerzhaft. Die Muskeln in seinem Oberkörper zuckten. Es war Wahnsinn, dachte er. Wahn sinn, und völlig unmöglich. In seinem Leben war für alles Platz, für Leidenschaft, für Zerstörung und Verrat, selbst für den Tod.
Aber nicht für Liebe.
12
Nächtelang lag Raoul wach und kämpfte mit sich. Eine Gaukle rin!, dachte er, während er sich auf seinem Strohsack im Hospiz wälzte. Es war Torheit, und mehr als das, es war gefährlich. Anna hatte seine Pläne schon einmal vereitelt. Manchmal hatte er gute Lust, sie umzubringen. Aber wenn sie ihn anfunkelte wie in der Taverne, wollte er nur noch eins: Tod und Hölle vergessen, seine Hände in ihren weichen Locken vergraben und sie unbeherrscht lieben. Ihr Stolz ließ ihn kochen vor Wut und steigerte sein Verlan gen nach ihr ins Unerträgliche. Halbvergessene Erinnerungen überfielen ihn. An andere Zeiten, an eine lange vergessene Zärt lichkeit. Er hatte nicht zu hoffen gewagt, solche Gefühle je wieder empfinden zu können.
Umso ungeduldiger erwartete er die Ankunft seines Herrn, Heinrich II. von Görz, Graf von Tirol. Und Raouls Geduld wurde nur wenige Tage auf die Probe gestellt.
»Ihr seid ein Bastard des Herrn von Kaltenberg?«, wiederholte der Graf. »Davon habt Ihr nichts gesagt, als wir uns das erste Mal tra fen.« In schweren Lederstiefeln und Felle um die Schultern, stan den sie unter der Mauer beim Herbarium. Auf dem nahen Fried hof nutzten Steinmetze das schöne Wetter. In das Hämmern der Meißel und Holzklöpfel mischte sich jetzt der Glockenruf zur Prim. Die Leute in der Herberge glaubten wahrscheinlich, dass Raoul noch schlief. Umso besser, es ging niemanden etwas an, was er mit dem Grafen zu besprechen hatte.
»Mein Vater besaß Kaltenberg vor Hermann von Rohrbach«, bestätigte Raoul. »Die Gauklerin … Anna«. Er unterbrach sich, alskönnte ihn seine Stimme bei ihrem bloßen Namen verraten. »Sie sagte mir, er sei zu Euch geflohen. Lebt er noch?«
Nachdenklich ging Graf Heinrich einige Schritte auf und ab. Er hatte die fünfzig bereits überschritten, doch die blassblauen Au gen in seinem verwitterten Gesicht waren klar und lebhaft. »Ein mal kam ein Herr von Kaltenberg zu mir nach Tirol, das war …«, er überlegte. »Im Jahre des Herrn 1297 . Wenn ich mich recht erin nere, ging es um eine Erbschaft. Das Übliche: Ein Streit, und am Ende war ein Rohrbacher tot. Euer Vater wurde geächtet, aber nach ein paar Jahren begnadigt. Kaltenberg und einige andere Güter musste er den Brüdern des Getöteten als Sühnepfand über geben. Aber seit er nach Baiern zurück ist, habe ich nichts mehr von ihm gehört.« Aufmerksam musterte er Raoul. »Ihr seht ihm nicht besonders ähnlich. Nun, wenn man es weiß … Ihr werft den Kopf zurück wie er.«
Mit bebenden Lippen stellte Raoul die Frage, die er sich jahre lang immer wieder gestellt hatte: »Wie ist sein Name?«
Heinrich von Görz konnte nur ansatzweise ahnen, was es für Raoul bedeutete, als er sagte: »Konrad von Haldenberg.«
»Konrad von Haldenberg«, wiederholte Raoul tonlos. Er ging einige hastige Schritte, um seine Gefühle zu verbergen. Der kalte Schatten der Berge lag noch immer auf dem Herbarium, doch er schob das Schaffell ein wenig von den Schultern. Ihm war warm.
»All die Jahre wollte ich, dass er mich als seinen Erben aner kennt. Aber vielleicht ist es gut so, wie es gekommen ist.«
Er war selbst überrascht, wie befreit er sich fühlte. Zum ersten Mal seit langer Zeit spürte er etwas anderes als den fieberhaften Drang, die Burg seines Vaters zu besitzen und sein Wappen zu führen. Ein flüchtiges Lächeln legte sich um seine Lippen.
»Ich habe Euch noch nie lächeln sehen.« Heinrich von Görz be obachtete ihn genauer.
Raoul sah zur Seite, doch er konnte es nicht zurückhalten. Oft betrachtete er abends Annas Gesicht im Feuerschein des Kamins. Wennsie es bemerkte, lächelte sie verstohlen. Während alle an deren frierend auf den Frühling warteten, genoss er die Winter abende am Feuer wie lange nichts mehr.
»Wenn Ihr nicht darüber sprechen wollt, ist Euer hübscher Grund vermutlich unter Eurem Stand«, bemerkte Görz amüsiert. »Nun, sei’s drum. Ein Mann, der im Bruch der göttlichen Ordnung gezeugt wurde, mag selbst auch
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