Die Gauklerin von Kaltenberg
Raoul sprechen. Sie hatte das Ge fühl,ihrem eigenen Urteil nicht mehr vertrauen zu können. Wenn sie an ihn dachte, hatte sie Angst vor sich selbst. »Wie geht es der Frau, die ich gefunden habe?«, wich sie aus. Sie zog Sibylle ein Stück zur Seite, denn ständig kamen Leute herein. Die Nachricht von der Patientin hatte sich offenbar in Windeseile verbreitet und lockte Scharlatane an. Aber auch einige gutgekleidete Leute drängten sich um ihr Bett, die aussahen, als kämen sie vom Hof des Grafen persönlich. Vielleicht war es eine angesehene Dame.
»Sie ist aufgewacht«, beantwortete Sibylle die Frage. Anna war ihr dankbar, dass sie nicht weiter nach Raoul fragte.«Sie heißt Ka threin Kunter. Wir hatten hier auf sie gewartet, denn Adam soll ein Brustkreuz machen, das sie dem Kloster stiften will. Ihr Mann hat vor vier Jahren das Eisacktal bei Barbian durch einen Saumpfad gangbar gemacht. Sie ist die Zollherrin von Barbian.« Sie wies auf die Leute im Krankensaal. »Siehst du? Der halbe Hof des Grafen von Tirol ist hier.«
Tatsächlich war der Krankensaal des Hospizes mittlerweile fast so voll wie die Taverne. Ein großer hagerer Mann in Rot mit einem kantigen Gesicht fiel Anna auf.
Sibylle stieß sie an. »Das ist der Spielmann des Grafen, von dem du gerade erzählt hast.«
»Das ist Freudenreich?« Wenn Raoul recht hatte, konnte er ihr vielleicht helfen. Es war nur ein Hoffnungsschimmer, doch besser als gar nichts. Aber würde er ihr überhaupt zuhören? Verstohlen betrachtete sie ihn. Noch nie hatte sie einen höfischen Spielmann gesehen. Er trug Rot, die Farbe der Gaukler, aber einen edlen schimmernden Stoff, und glänzende Ringe. Wenn er auch dem Buchstaben nach rechtlos war, behandelten ihn die Leute wie einen hohen Herrn.
»Komm schon!«, rief Sibylle. »Frau Kunter wird mit dir spre chen wollen. Du hast ihr das Leben gerettet.«
Um das Bett der Kaufmannsfrau hatte sich inzwischen einiges Gelichter geschart, das brüllend auf sich aufmerksam zu machen versuchte.Anna und Sibylle mussten sich durch eine Traube von Gauklern und Bettlern drängen. Nach der klaren kalten Luft vorhin erschien Anna die Luft mit den üblichen Gerüchen nach Zwiebeln und tagelang getragenen Kleidern zum Schneiden. Wenigstens fror sie nicht mehr so.
»Das ist das Mädchen, das Euch gefunden hat, Frau Kunter«, stellte Sibylle sie vor.
Müde richtete sich die Frau im Bett auf. Anna nahm die kalte Hand, die sie ihr entgegenstreckte. Sie schätzte Kathrein Kunter auf Dreißig – jünger, als sie vorhin mit frostüberhauchtem Gesicht gewirkt hatte. Schrecken und Kälte saßen ihr sichtlich in den Kno chen. Anna war froh, ihr geholfen zu haben. Sie wusste, wie man sich fühlte, wenn man verlassen in der Wildnis lag. Und diese Frau hatte noch einige Jahre vor sich.
»Ohne dich wäre ich erfroren«, sagte Frau Kunter mit belegter Stimme. Sie hustete, es war kein Wunder, dass sie sich erkältet hatte. »Mein Vorarbeiter wird nachher heraufkommen und sich erkenntlich zeigen.«
»Ich habe Euch nicht geholfen, um mir einen Vorteil zu ver schaffen«, erwiderte Anna. Sie zögerte und sah wieder nach Freu denreich, der gemeinsam mit den Klosterdienern das Gesindel hin ausschaffte. Sibylle beugte sich zu der Kaufmannsfrau, wies auf den Spielmann und raunte ihr etwas zu.
Frau Kunter nickte und rief ihn heran.
Obwohl sich Anna nach ihrem Gespräch mit dem Propst nicht mehr viel erwartete, spürte sie doch eine Erregung. Eine Wolke abgestandenen Mets umgab Freudenreich. Er war nicht so groß, wie er von weitem gewirkt hatte. Als er herankam, bemerkte sie, dass er auch älter war.
»Dieses Mädchen hat mir das Leben gerettet«, stellte Frau Kun ter sie vor. »Ich möchte, dass du ihr zuhörst.«
Er sah sie mit der freundlichen Gleichgültigkeit eines Mannes an, der ständig angebettelt wurde. Obwohl sie es sich ein Dutzend Malzurechtgelegt hatte, fiel es Anna schwer, ihre Bitte auszusprechen. In wenigen Worten erzählte sie von dem Lied, von dem Blatt mit dem rätselhaften Schicksalsrad, und was sie über die Schreiber und den Maler gehört hatte.
»Liebes Kind«, meinte der Spielmann, als sie fertig war. »Ein Dutzend Mönche sind schon bestraft worden, weil sie zur falschen Zeit das falsche Lied gesungen haben.« Er wirkte beinahe, als sei er beleidigt, mit so etwas belästigt zu werden.
»Streng dein Gehirn an!«, mischte sich Frau Kunter ein. »Du hast das Lied doch auch schon gesungen. Der Graf hätte das nicht erlaubt, wenn es
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